Sonntag, 2. Oktober 2022

108. Tag: 09. September 2022 Sospel – Peille

Die blaue VIA ALPINA endet in Sospel und biegt hier in ihre rote Schwester ein, welche die Fernwanderer nach Monaco bringt. Dieser Route werde ich auf meinen letzten beiden Tagen folgen. Um den Wandertag jedoch überhaupt beginnen zu können, muss ich zunächst eine Dreiviertelstunde lang der Straße von gestern bis in die Innenstadt von Sospel folgen.
Um halb acht starte ich am Campingplatz. Zum ersten Mal seit Wochen ist der Rucksack leichter als gewohnt, da ich ja heute Abend wieder hierher zurückkomme und daher das Zelt stehen lassen kann.
In Sospel angekommen besichtige ich zunächst die mittelalterliche Pont-Vieux. Im 13. Jahrhundert zunächst aus Holz errichtet, ermöglichte sie der Salzstraße Nizza - Turin die Überquerung der Bévéra; der Turm auf der Brückenmitte diente dabei als Zollhaus. Heute liegt sie herrlich fotogen in der Morgensonne, Kinder überqueren sie auf dem Weg in die Schule.
In einer Boulangerie unweit der Brücke kaufe ich Baguette und Croissant, beim SPAR um die Ecke die restlichen Frühstücksbestandteile und ein wenig Verpflegung für den Wandertag. Für den Transport erweist sich die Baguette-Halterung meines Rucksacks als äußerst praktisch.
Durch pittoreske Gassen verlässt die VIA ALPINA die Stadt; an der Kathedrale laufe ich heute früh noch vorbei, deren Besichtigung hebe ich mir für den Abend auf.
Jetzt im September steht die Sonne um halb neun noch recht niedrig, dadurch kann ich ganz entspannt im Schatten aufsteigen, zumindest die ersten anderthalb Stunden. Wieder säumen einige langfristig abgestellte Alt-Autos die kleine Straße, darunter erstaunlicherweise auch ein wunderschöner Oldtimer.
Am Col Saint-Jean komme ich in die Sonne. Leider ergibt sich hier kein schöner Rastplatz für mein Frühstück, so dass ich ersteinmal weiterwandere. Jenseits der Passstraße führt mich der weiter ansteigende Wanderweg in ein ausgedehntes Waldstück, das aus einigen Kiefern und einer Unmenge niedriger Eichen besteht. Gelegentlich wird der Wald von Lichtungen unterbrochen mit Ruinen längst verlassener Häuser und Überresten terrassenartig angelegter Felder. Hier war augenscheinlich der Hang zu steil, der Boden zu karg oder - für eine Anschlussnutzung - die Côte d‘Azur noch zu weit weg. Ein Bild, wie ich es ja schon zur Genüge an der GTA gesehen habe.
Dafür wird der Wald heute anderweitig genutzt: Vor mir okkupiert auf einmal ein Schild CHASSE EN COURS meine Aufmerksamkeit und lässt mich unwillkürlich umschauen. Stimmt, seit dem 1. September ist ja Jagdzeit in Frankreich. Jedoch scheint dieses Schild eher prophylaktisch aufgehängt worden zu sein, denn ich werde heute weder irgendwo einen Schuss hören noch jemanden Jagen sehen - eigentlich sehe ich überhaupt niemanden, zumindest nicht zu Fuß.
Der herrliche Waldweg endet an der Baisse du Pape, einem nach Westen hin offenen aussichtsreichen Sattel. Hier findet sich auch ein schöner Sitzplatz, so dass ich um kurz nach 11 endlich frühstücken kann.
Der Blick von hier geht in die Weite der provencalischen Alpen, einer Karstlandschaft mit schroffen bleichen Felsen und dürrem Bewuchs, in der nur vereinzelte Wirtschaftswege erkennbar sind als Anzeichen von Zivilisation.
Es ist ein sehr merkwürdiger Teil der Alpen, völlig anders als alles bisher auf meiner Tour Gesehene; statt an das Hinterland der Côte d‘Azur erinnert die Weite eher an die Berge New Mexicos.
Während ich dasitze und esse, fällt mir auf, dass es völlig still ist, und welches Geräusch mir seit einigen Tagen fehlt: Seit Saint Martin-Vésubie habe ich keine Murmeltiere mehr gehört; das Pfeifen der possierlichen Nager begleitete mich quer über die Alpen beinahe an jedem Tag, neben dem Glockengeläut von Kühen und Ziegen war es das Hintergrundgeräusch, ja quasi der Soundtrack meiner Wanderung.
Eine halbe Stunde auf einer Schotterstraße später erreiche ich den Col du Farguet, höchster Punkt für heute. Wichtiger noch, hier bewege ich mich zum letzten Mal überhaupt auf meiner Tour oberhalb der 1.000 Meter- Marke; Blick zurück: Zum ersten Mal durchbrach ich diese am vierten Tag beim Aufstieg zur Gauermannhütte in den Gutensteiner Alpen.
Der Ausblick von hier oben ist dieses symbolischen Ortes würdig: Auf der einen Seite die hohen Berge des Mercantour, auf der anderen Seite das Meer.
Während ich hier oben ein paar Fotos mache kommt eine große Gruppe E-Biker an, alle Räder in gleicher Farbe, ebenso die T-Shirts und Caps der etwa zwei Dutzend Fahrer, im Schlepptau schließlich ein Mercedes Sprinter als Begleitfahrzeug - vollorganisiertes All Inclusive- Abenteuer. Sie halten kurz an, fotographieren das Meer und fahren weiter, so habe ich den Pass schnell wieder für mich alleine.
Die VIA ALPINA folgt von hier an einem sehr kleinen Steig, der mich in spannender Wegführung einschließlich kurzer Schrofenpassagen bergab führt. Kurz bevor ich die Häusergruppe von Saint- Siméon erreiche, liegen auf einmal Nizza und die Baie des Anges in der Ferne vor mir, ein phantastischer Anblick.
Von hier an wird der Wandertag leider etwas zäh. In Richtung Peille ist noch einmal ein tiefes Tal zu durchqueren; dieses Runter und Rauf strengt ziemlich an, zudem ist der Schlussteil des Wiederaufstiegs mangels Aussicht eine ziemlich langweilige Angelegenheit. Melissa Etheridge und später, als es ganz fad wird, eine alte Liveplatte von BAP sorgen zumindest auf dem Kopfhörer für ein wenig Ablenkung.
Dann ist Peille erreicht. Die engen Gassen des Dorfes sind sehr hübsch anzuschauen; der ganze Ort wirkt jedoch zu ordentlich und teilweise wie geleckt, fast so wie im Rahmen einer großen Ferienanlage errichtet. Zudem begegnen mir hier nur unfreundliche Menschen: Weder der Arbeiter der Gemeinde, die Menschen denen ich beim Durchlaufen begegne noch die auf dem Hauptplatz sitzenden Alten erwidern meinen Gruß, so etwas erlebe ich tatsächlich zum ersten Mal auf der Tour. Also nichts wie weg. 
Da ich heute noch nach Sospel zurück muss steige ich von Peille aus hinab ins Tal zum Bahnhof des Dorfes. Eine Straße mit vielen Serpentinen führt hinunter; zum Glück lassen sich die meisten von ihnen auf Fußwegen abkürzen. Ganz unten stehen Agaven und Kakteen an der Straße – eine ganz besondere Art alpinistischer Flora.
Von Peille zurück nach Sospel fahre ich mit der Tendabahn, der spektakulär trassierten Gebirgsbahn von Nizza nach Cuneo. Bereits auf dem kurzen von mir befahrenen Teilstück zeigt sich der Charakter der Strecke: Viele Tunnel, darunter der fast sechs Kilometer lange Tunnel du Col Braus, viele Brücken und eine kurvenreiche Streckenführung durch die Schlucht des Paillon begeistern den Eisenbahnfan in mir.
Da es an der Station von Peille keinen Fahrkartenautomat gibt, erfolgt der Ticketkauf ganz offiziell im Zug. Dies gestaltet sich jedoch schwierig, da dieser fast die ganze Zeit durch Tunnel und enge Schluchten fährt und die Schaffnerin daher mit ihrer tragbaren Kasse nicht online gehen kann. Sie steht fast eine Viertelstunde vor mir und wartet, dass sie endlich wieder Verbindung bekommt. Das klappt bis Sospel nicht wirklich; ich bin gespannt, was ich jetzt für eine Kreditkarten- Abbuchung von der SNCF bekomme. Im Zug tragen im übrigen weder die Schaffner noch sonst jemand eine Maske, es scheint, dass in Frankreich die Maskenpflicht in Zügen aufgehoben ist.
In Sospel steht eine Militärpatrouille am Bahnhof, in Flecktarn-Uniform und voll ausgerüstet mit Maschinenpistolen und schusssicheren Westen. Ein martialischer Anblick, wie ich ihn bislang nur aus der Pariser Metro und den großen Bahnhöfen kannte, und sehr gewöhnungsbedürftig an dieser winzigen Station.
Vom Bahnhof aus gelange ich schnell wieder in die Innenstadt. Entlang der Straßen, unter den Platanen der Straßencafés und in der kleinen Altstadt ist deutlich mehr Leben als heute früh. Ich setze mich auf eine Mauer am Fluss, esse den Rest meines heutigen Vorrats und beobachte das entspannte Kleinstadt- Treiben um mich herum. Danach hole ich noch die heute morgen aufgeschobene Besichtigung der Kathedrale nach, ein von außen wenig spektakuläres, innen aber um so beeindruckenderes Bauwerk.
Zurück am Campingplatz beschließe ich den Tag wieder auf der Terrasse des Restaurants – never change a running system.
Beim Zähneputzen kommt mir noch die örtliche Fauna in Anblick: Eine Gottesanbeterin hat sich am Nachbarwaschbecken eingefunden und bewegt sich mit der typischen Wippbewegung vorwärts.

Glück des Tages: Der Ausblick von den beiden Pässen: Vom Sattel der Baisse du Pape auf die provencalischen Alpen, vom Col du Farguet auf die Seealpen und das Meer.

Gelaufen: 30,3 Kilometer  
Bergauf: 1.163 Hm   
Bergab: 1.240 Hm   
Höchster Punkt: Col du Farguet  (1.083m)
Übergänge: Col Saint-Jean, Baisse du Pape, Col du Farguet 
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...