Donnerstag, 22. September 2022

104. Tag: 05. September 2022 Refuge de la Madone de Fenestre - Saint Martin-Vésubie

Heute möchte ich zum letzten Mal hoch hinaus: Der Weg nach St. Martin- Vésubie soll mich heute über die 2.700 Meter hohe Cime de l‘Agnellière sowie später Cime du Pisset und Cime de Piagu führen. Dafür muss ich zunächst ein Stück des gestrigen Abstiegsweges wieder zurück und hinauf, bis nach links der Steig zum Pas des Landres abzweigt. 
Direkt am Sanctuaire de la Madone beginnt der Nationalpark Mercantour, worauf ein unübersehbares Schild hinweist.
Der Aufstieg macht Spaß, ich komme gut voran in einer wilden Hochgebirgslandschaft.
Am Pass teilt sich der Weg: Der größere würde über den Pass hinweg auf dem Fernwanderweg GR52 nach Norden zum Refuge de la Cougourde führen, der kleinere folgt dem Bergkamm hinauf in Richtung der Cime de l‘Agnellière. In diesen biege ich ein. Auch hier komme ich gut und ohne Schwierigkeiten bergauf. Schon ziemlich weit oben, als der Steig auf die Westseite des Kammes wechselt, überrasche ich eine Gamsgeiß mit ihrem Kitz beim späten Frühstück zwischen den Felsblöcken. Im Gegensatz zu den Steinböcken, die nicht bejagt werden, reagieren Gemsen auf Menschenkontakt mit Flucht. So auch diese beiden, die in eleganter Manier etliche Höhenmeter zwischen uns bringen und tief unten bald nicht mehr zu sehen sind. Nichts liegt mir ferner, als Gemsen zur hohen Flucht zu bringen, aber hier hatte ich wohl keine Chance, dieses zu vermeiden.
Eine Viertelstunde später habe ich den nächsten Wildkontakt: Auf einem Felszacken, den ich von unten fälschlicherweise bereits für den Giofel der Cime gehalten habe, scheint eine großes Adler- Statue errichtet zu sein. Als ich näherkomme erwacht diese plötzlich zum Leben, schwingt sich in die Luft und beginnt über mir zu kreisen, zusammen mit zwei oder drei Artgenossen, die sich in einiger Entfernung ebenfalls vom Aufwind treiben lassen. Welch ein Anblick, diese großen Greifvögel ohne jede Flügelbewegung elegant ihre Runden drehen zu sehen.
Auf einem Schotterfeld zwischen dem nun deutlich identifizierbaren Gipfel der Cime und einem flachen Vorgipfel endet unvermittelt der bis dahin gut gebaute und markierte Steig. In Richtung Einstieg zum Hauptgipfel sind noch einige Trittspuren zu erkennen, in Richtung der Überschreitung nach Westen dagegen nichts mehr. Ich steige erst einmal zu diesem Vorgipfel auf, um eine kurze Pause einzulegen und danach weiterzusehen. Als ich an der höchsten Stelle angelangt bin und per Peakfinder- App die Namen der nahegelegenen Gipfel identifizieren möchte, bin ich zunächst überrascht, dass ich von hier oben bei optimaler Sicht bis nach Korsika sehen könnte. Dann stockt mir der Atem: Im Dunst kann ich weit entfernt das Meer sehen, kaum erkennbar bei den heutigen Bedingungen, aber das ist eindeutig Cap Antibes, das ins Mittelmeer hineinragt.
Damit habe ich heute überhaupt nicht gerechnet, der Blick trifft mich wie ein Schlag; ich setze mich hin, ein wenig benommen, ein paar Tränen sind auch dabei, und sage es mehrmals zu mir selbst, um es irgendwie erfassen zu können: „Da hinten liegt das Meer!“ Gut erkennbar ist auch, dass die hohen Berge nur noch hier im Bereich des Alpenhauptkamms zu finden sind, das Geländeprofil in Richtung Küste zunehmend zahmer wird.
Eine halbe Stunde bleibe ich hier sitzen und genieße den Anblick, dann reiße ich mich los, denn ich will und muss ja noch weiter.
Leider findet sich im Geröll und Schutt trotz Karteneintrag kein verlässlicher Steig, um meinen Weg hier oben fortsetzen und am Kamm entlang weiterwandern zu können. Die GPS- Anzeige ist zu ungenau, um zwischen den unübersichtlichen Felsblöcken und am Rande einer steilen Geländekante verlässlich auf den Meter genau navigieren zu können. Eine Vielzahl von Steinmännern suggeriert, dass an ihnen der Weg vorbeiführt beziehungsweise dass sie ihn markieren; jedoch sind es zu viele und sie sind an zu unterschiedlichen, sich teilweise auch widersprechenden Stellen errichtet, um in irgendeiner Weise eine Hilfe zu sein. So bleibt mir nach einigem vergeblichen Suchen nur die bittere Entscheidung: Hier findet heute keine Überschreitung statt, da ich den Weg nicht finde und ich nicht auf gut Glück irgendwo hinsteigen möchte. Also muss ich zurück, den ganzen Weg bis zum Refuge, 800 Höhenmeter und sieben Kilometer retour.
Einerseits fluche ich laut und vernehmlich über diesen Zusatzaufwand, andererseits konnte ich von dort oben das Meer sehen. Vergeblich war der Aufstieg also nicht.
Fast vier Stunden nach dem ersten Aufbruch erreiche ich um kurz vor 12 wieder das Refuge und fülle noch einmal mein Wasser auf. Der blaue Himmel des Morgens hatte bereits vor einiger Zeit einige Schleier bekommen, nun beginnen die ersten Quellwolken zu wachsen; ich verschwende also keine Zeit und beginne unweit der Hütte den Aufstieg wieder zum Kamm hinauf.
Ein paar Serpentinen sind zu erarbeiten und zwei rinnenartige Seitentäler zu queren, dann stehe ich unweit der Cime du Pisset wieder auf dem Grat.
Der Weg vereinigt sich hier mit dem von oben kommenden, den ich vorhin an der Cime de l‘Agnellière nicht gefunden hatte, und folgt mit schöner Aussicht dem in westlicher Richtung verlaufenden Höhenzug. 
Das ist schönes Wandern und macht richtig Spaß. Leider setzt sich am Gipfel der Cime de Piagu, die vor mir aufragt und die ich eigentlich überschreiten möchte, bald eine dunkle Wolke fest, die schnell an Volumen gewinnt; auch ringsum trübt es sich sukzessive ein. Während ich auf das dynamische Geschehen zuwandere, erscheint es mir zunehmend zweifelhaft, dort hinüber zu kommen, da ich mich über noch mindestens zwei weitere Stunden auf und direkt neben dem Grat befinden würde.
Jedoch habe ich mich nicht ohne Plan B auf diese Gratwanderung begeben, zumal mich Massimo gestern auf mögliche Schauer und Gewitter am späten Nachmittag hingewiesen hatte. In der Scharte vor dem Grataufschwung zum Gipfel zweigen nach Norden und Süden Abstiegsrouten ab, von denen ich den südlichen hinab ins Vallon de Fenestre und zur Talstraße wähle, die mich auch nach St. Martin- Vésubie bringen würde. Ein Wanderschild zeigt auch genau dies an, und ein mit gelben Zeichen markierter Steig führt hinab. Diesem folge ich etwa 300 Höhenmeter abwärts bis zu den Baracken der Alm La Mairis. Neben dieser grast einsam ein Stier, der jedoch von mir keine Notiz nimmt.
Auf einer Wiese etwas unterhalb der Alm soll sich laut Karte der Weg teilen; jedoch gibt es vor Ort keinen entsprechenden Hinweis, im Gegenteil hören genau hier die Markierungen und auch die Steiganlage auf. Ich irre nun eine halbe Stunde kreuz und quer über die Wiese und den angrenzenden Wald, um mit GPS-Hilfe den Weg wiederzufinden, und finde sogar noch ein wenig tiefer noch einmal eine einzelne Markierung an einem Baum. Trotz allem Suchen bleibt dies jedoch der einzige Hinweis, dass sich hier eventuell ein Weg befindet, zudem befinde ich mich nun oberhalb eines steilen Waldhangs, in den ich ohne Not keinesfalls einsteigen möchte. Ich muss also schweren Herzens erneut die Entscheidung treffen, dass Umkehr die einzig vernünftige Option ist. Leider bedeutet dies inzwischen fast 400 Höhenmeter Wiederaufstieg zurück auf den Kamm, den ich ja eigentlich verlassen wollte. Merde!
Auf dem Weg nach oben begegne ich wieder dem Stier, der jedoch ebenso lethargisch ist wie zuvor. Viel ärger ist, dass oberhalb von mir auf einmal wütendes Hundegebell zu hören ist, und ich unversehends drei großen Hütehunden gegenüberstehe, die exakt so furchterregend aussehen wie ich sie bisher nur aus Beschreibungen und Warnhinweisen kannte. Was tun? Rückzug - wie eigentlich empfohlen - geht nicht. Also rede ich beruhigend auf die drei ein, während ich penibel dem hier ja wieder erkennbaren Steig nach oben folge. Für die Hunde ist dies wohl akzeptabel, trotz wildem Gebells kommen sie nicht näher und lassen mich schlussendlich passieren.
Als ich wieder oben auf dem Grat am Wanderschild stehe, das das Holz nicht wert ist aus dem es gemacht wurde, sind seit Beginn des Abstiegs mehr als zwei Stunden vergangen. Die Wetterlage hat sich nicht entspannt, eher im Gegenteil. Während ich nun nachdenke und auf der Navi-App prüfe, was zu tun ist, läuft eine junge Joggerin auf mich zu und fragt mich auf Englisch, ob der Weg zum Gipfel führt; ich antworte auf französisch, sie bittet jedoch um Antwort auch in Englisch, offensichtlich also keine Einheimische. Nachdem ich ihre Frage bejaht habe, setzt sie unverdrossen ihren Lauf fort mitten hinein in die dunkle Wolkenfront. Jeder ist seines Glückes Schmied, denke ich, ich gehe da nicht weiter, zumal es inzwischen bereits fast dreiviertel fünf ist. Einzig verbleibender vernünftiger Ausweg - außer dem langen Rückmarsch zum Refuge de la Madone -, ist nun der Abstieg nach Norden ins Nachbartal, in dem ich laut Karte irgendwann auf einen großen Wanderparkplatz treffen werde. Dort wird sich hoffentlich eine Mitfahrgelegenheit ergeben, ansonsten steht mir noch ein Straßenhatscher bevor.
Der Weg hinunter rauscht an mir vorbei, ich will nur noch diesen Pannen- Tag zu Ende bringen. In endlosen Serpentinen geht es durch Bergwald bergab, einzig Berichtenswertes sind die vielen Fliegenpilze unterwegs.
Dann sehe ich endlich durch die Bäume den Parkplatz. Drei Autos stehen dort, ein viertes fährt gerade an. Ich laufe winkend die letzten Meter aus dem Wald heraus, der Fahrer sieht mich, hält an und lässt die Scheibe herunter. Es ist ein junger Mann von der örtlichen Forstverwaltung. Ja, klar kann er mich mitnehmen, er fährt bis St. Martin. Puh, Glück gehabt.
Bei der viertelstündigen Fahrt das Tal hinunter erzähle ich ihm von meinem heutigen Wander- Missgeschick, gleich zweimal einen vorher gut markierten Weg im Gelände nicht mehr gefunden zu haben und umkehren zu müssen, trotz GPS und zum ersten Mal seit Wien überhaupt. Dann kommen wir an den Spuren der verheerenden Überschwemmung von 2020 vorbei; der ganze Talboden ist streckenweise wie weggewischt, teilweise stehen Häuser direkt an der Abbruchkante über dem Abgrund. Erinnerungen an die Bilder aus dem Ahrtal kommen auf. Vieles sei inzwischen bereits weggeräumt, das hätte hier katastrophal ausgesehen, meint Philippe, mein fahrender Retter.
Der Ortskern von St. Martin-Vésubie liegt etwas oberhalb, so dass er verschont wurde. Philippe lässt mich an der Place Charles de Gaulle raus. Von hier aus sind es nur noch wenige Schritte zur „Gîtes d‘etape La Rougière“. Hélène, die im Nachbarhaus wohnende Inhaberin, öffnet mir und führt mich durch die Räumlichkeiten. Ich könne mir ein Zimmer aussuchen, außer mir erwartet sie später am Abend nur noch eine einzelne Radfahrerin; Duschen sei kostenlos, Boulangerie und Supermarkt gleich um die Ecke - besser geht es nicht nach so einem verkorksten Tag. Ich möge nur bitte heute noch bezahlen, ergänzt sie freundlich; das erledigen wir sofort.
Im Licht des frühen Abends mache ich noch eine kleine Entdeckungstour durch den Ort. 
Er gefällt mir sofort mit seinen hübschen Häusern, dem kleinen Bach, der in einer Rinne mitten durch das mittelalterliche Zentrum fließt, und überhaupt der spürbaren südfranzösischen Stimmung - die „richtigen“ Alpen liegen hinter mir.
Anschließend decke ich mich für das Abendessen ein mit herrlich duftendem Baguette aus der Boulangerie.
Dazu gibt es Käse und Rillettes sowie Bier von FISCHER aus dem Elsaß; ein französisches Abendessen genau nach meinem Geschmack.

Glück des Tages: Das Gefühl, in Südfrankreich angekommen zu sein.

Gelaufen: 23,7 Kilometer
Bergauf: 1.570 Hm 
Bergab: 1.777 Hm  
Höchster Punkt: Cime de l‘Agnellière- Vorgipfel (2.691m)
Übergänge: keine
Gipfel: Cime de l‘Agnellière- Vorgipfel

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...