Freitag, 23. September 2022

105. Tag: 06. September 2022 Saint Martin-Vésubie - Belvèdére

Da ich ja gestern schon bezahlt hatte und ich mich heute selbst um das Frühstück kümmern muss – was ja angesichts der zentralen Lage der Gîte recht einfach ist – kann ich direkt nach dem Zusammenpacken meiner Siebensachen aufbrechen.
Wieder besuche ich den kleinen Supermarkt und die Boulangerie, setze mich dann auf eine Bank gegenüber der Mairie und genieße ein richtiges Frühstück unter blauem Himmel.
Dabei schaue ich dem Treiben auf dem Platz vor mir zu, Leute kommen und gehen, es ist richtig was los; zum ersten Mal seit Susa beobachte ich halbwegs urbanes Leben.
Schließlich drehe ich noch einmal eine kleine Sightseeing- Runde zwischen den alten Häusern im Zentrum und werfe einen Blick in die hübsche, opulent ausgestattete Kirche.
Die örtlichen Straßennamen pendeln zwischen lokaltypisch und eher ungewöhnlich.
Am Ortsrand treffe ich auf die Blaue VIA ALPINA, der ich ab jetzt bis fast ans Meer folgen werde, sowie den parallel verlaufenden GR52A, der den Parc National du Mercantour umrundet. Belvédère steht auch schon dran.
Für anderthalb Stunden geht es nun beinahe eben über eine Straße, erst geteert, dann geschottert. Der Blick zurück auf Saint Martin gibt noch einmal einen Blick auf das Ausmaß der Verwüstungen der Hochwasser- Katastrophe. Deutlich friedvoller ist der Blick auf die umliegenden Berge und das Tal der Vésubie hinunter, über dem bereits das Tagesziel Belvédère sichtbar ist.
Der Weg scheint auch als Schrottplatz für Altautos zu fungieren, die einfach am Rand abgestellt werden. Vom 2CV bis zum R4-Kombi stehen diverse Typen vorzugsweise aus den 80ern herum und gammeln vor sich hin, zum Teil sogar noch mit angeschraubten Nummernschildern.
In Le Bioulet endet der Fahrweg. Hier pflücke ich in einem verwilderten Garten mit Hilfe meiner Wanderstecken ein paar dreiviertelreife Birnen, die phantastisch schmecken. Die Brombeerzeit scheint dagegen vorbei zu sein: Zwar locken die üppigen schwarzen Früchte meinen Naschinstinkt, jedoch sind sie trotz aller äußeren Pracht innen weitgehend trocken und ohne Geschmack.
Nach Überschreiten eines Geländerückens geht es tief hinab bis an den Rand des Dorfes Berthemont-les-Bains. Nach dem gestrigen Höhenmeter- Overflow entscheide ich hier, dass die Bergwertungen heute beendet sind; die VIA ALPINA überquert nämlich anschließend auf dem Weg nach Belvédère mit einem ziemlichen Aufwand an Höhenmetern einen weiteren Höhenzug, den ich mir so erspare. Statt dessen steige ich in einigen Straßenkehren bis zur im Talgrund der Vésubie verlaufenden Route des Grandes Alpes. Dort angekommen erfahre ich quasi im Vorbeigehen, dass es nur noch 56 Kilometer bis zur Côte d‘Azur sind.
Am Rand der Hauptstraße wandere ich ganz entspannt die nächsten Kilometer bis nach Vieux Village am Rande des Städtchens Roquebillière, wo über den Hochwasserspuren bereits eine neue Brücke errichtet wurde.
Die Serpentinen der Straße hinauf nach Belvédère lassen sich größtenteils auf kleinen Fußwegen abkürzen, so dass ich um viertel nach 5 das pittoreske kleine Dorf erreiche. Nach einem kleinen Rundgang betrete ich die Touristinformation und frage, wie ich zu meiner Gîte d‘Etape kommen könnte; ich weiß neben dem Namen lediglich, dass diese etwas außerhalb liegt und dass deren Homepage gelinde gesagt nur bruchstückhafte Informationen bietet, vor allem über deren genauen Lage. Ich störe die junge Frau hinter dem Tresen offensichtlich bei hochwichtiger Daddelei auf ihrem Privathandy. Trotzdem versucht sie mir nach kurzer Web-Suche mit Ansätzen von Freundlichkeit zu erklären, dass sie keine Ahnung habe, wo meine Unterkunft sei. Das kann ich so nicht stehen lassen, immerhin ist Belvédère dem Anschein nach recht überschaubar und nicht zum Beispiel Paris, wo man als Angestellte der Touristenbetreuung vielleicht schon einmal den Überblick verlieren kann. Die Dame weiß sich nun nicht anders zu helfen, als einen gegenüber mit seinem kleinen Sohn Fußball spielenden Mann anzusprechen, ob er wüsste, wo ich hinzuschicken sei. Er bejaht und gibt mir eine gut nachvollziehbare Wegbeschreibung; in weniger als 10 Minuten sei ich da. Ich bedanke mich und spaziere kleine Gassen und Treppen wieder hinunter, bis ich mich vor einem Schild „Gîte d‘Etape“ wiederfinde. Leider stellt sich rasch heraus, dass dies das falsche Etablissement ist. Meine Unterkunft sei ganz woanders, meinen die Männer, die vor dem Haus stehen, und geben mir eine ungefähre Wegbeschreibung mit der Entfernungsangabe „une heure“.
Ich gehe also zurück ins Dorfzentrum, wo natürlich die Touristeninfo inzwischen geschlossen hat und auch sonst kaum jemand mehr auf den Straßen unterwegs ist; außer einem ausverkauften Obstladen hat auch keines der wenigen Geschäfte mehr offen. Das ist auch insofern ungut, als dass ich weiß, dass ‚meine‘ Gîte kein Abendessen bereitstellt. Was nun? Ich kaufe das einzige, was der Obstladen mir noch Brauchbares zur Verfügung stellen kann, vollständig auf.
Dann setze mich auf eine Bank und versuche, die Unterkunft anzurufen. Es geht aber lediglich ein Anrufbeantworter dran, der eine alternative Telefonnummer durchsagt, dies jedoch in einem Tempo, dem ich auch bei mehrmaligem Anhören nicht folgen kann.
So recherchiere ich noch einmal auf deren inhaltsarmen Homepage, ob es nicht doch irgendwelche Anhaltspunkte gibt. Da: In einem Untermenü lässt sich eine GoogleMaps- Karte aufrufen, und wenn man weit genug reinscrollt auch eine Örtlichkeit lokalisieren; diese deckt sich mit der Angabe, wenn man die Gîte bei Google eingibt – Bingo. Leider ist dies eine knappe Stunde entfernt, was sich jedoch auch wieder mit der Entfernungsangabe deckt, die ich bei der ungenauen Wegbeschreibung in der falschen Gîte bekommen habe.
Eine Wanderstunde später stehe ich in nachlassendem Licht exakt da, wo Google mich hingelotst hat. Leider befindet sich hier nur ein verlassenes Ferienhaus. Das darf doch nicht wahr sein – den ganzen Weg von Wien bis hierhin klappt alles bestens, und nun erlebe ich zwei Tage hintereinander solch ein Desaster.
Begleitet von dem ein oder anderen Fluch - zu deutsch: Ich bin mittelschwer ausgerastet - überlege ich nun, was ich mache; zur körperlichen und seelischen Abkühlung öffne ich dabei eines der beiden Biere aus dem Obstladen. An einer Zeltnacht hier in der für mich nicht einschätzbaren Pampa zwischen den Dörfern habe ich überhaupt kein Interesse. Ich vertiefe mich also noch einmal in meine Handy- Kartenapps und durchsuche mit jeder von ihnen bei großer Vergrößerung Quadratmeter für Quadratmeter die Umgebung von Belvédère. Und werde schließlich fündig: Die App mapy.cz, auf der ich sonst meist nur navigiere wenn ich Informationen über das Geländerelief brauche und die jetzt auch erst meine dritte Wahl war, zeigt etwa zweieinhalb Kilometer von mir tatsächlich eine Übernachtungsmöglichkeit mit dem Namen „Les Condamines“ an. Genau so heißt auch die Gîte. Zu verlieren habe ich nichts, also mache ich mich sofort auf den Weg.
Eine halbe Stunde später sehe ich zunächst einen Wegweiser „Gîte d‘Etape“ und atme tief durch.
Dann stehe ich schließlich vor der am Ende eines langen Wirtschaftsweges gelegenen Unterkunft. Guy, der Eigentümer, begrüßt mich freundlich, er und seine Frau sind eben vom Pilzesammeln zurückgekommen und breiten ihre Ernte auf der Terrasse aus. Sie haben nicht mehr mit mir gerechnet, erzählt er mir, während er mir die Unterkunft zeigt. Meinen Hinweis, dass die GoogleMaps-Angabe auf der Homepage nicht stimmt, begegnet er mit einem lockeren Lächeln. Ja, die stimme wirklich nicht, daher hat er vor Belvédère direkt am GR52A ein Schild aufgestellt, denn von da kommen ja die meisten Wanderer; wer aber wie ich aus Richtung des Ortes komme, tappe tatsächlich im Dunklen. Dass das Touristenbüro nicht wisse wo seine Gîte ist wäre schon blöd, da müsse er wohl noch einmal informieren. Ist dies die südfranzösische Nonchalance, die Peter Mayle in seinen Provence- Büchern so wunderbar beschrieben hat, während sie ihn in den Wahnsinn trieb?
Guy jedenfalls ist so freundlich, dass man ihm überhaupt nicht böse sein kann. Im Gegenteil, er bringt mir auf meine vorsichtige Anfrage hin, ob ich vielleicht noch eine Scheibe Brot und ein wenig Käse bekommen könnte, alle Bestandteile eines leckeren Abendessens in den Aufenthaltsraum, so dass ich tatsächlich nicht hungrig ins Bett gehen muss. Tief dankbar breite ich nach dem Duschen alles auf dem Esstisch aus.
Während ich esse kommen die beiden anderen Übernachtungsgäste, Gilles und Alain aus der Nähe von Genf, von ihrem abendlichen Gang ins Dorf zurück. Wir begrüßen uns kurz, dann gehen die beiden in den Schlafbereich.
Ich lasse mir den Rest meines Abendmahls schmecken und sinniere hoffnungsvoll, das die noch kommenden vier Tage hoffentlich wieder ähnlich ruhig verlaufen werden wie die ersten 103.

Glück des Tages: Noch ein Abendessen bekommen zu haben.

Gelaufen: 29,5 Kilometer
Bergauf: 935 Hm 
Bergab: 941 Hm  
Höchster Punkt: Höhenrücken bei Le Bioulet (1.539m)
Übergänge: keine
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...