Sonntag, 25. September 2022

106. Tag: 07. September 2022 Belvèdére - Col de Turini

Ich frühstücke zusammen mit Gilles und Alain und erzähle ihnen von meiner langen Tour im Allgemeinen und der GTA im Besonderen. Die beiden Franzosen haben bereits die Tour du Mont Blanc gemacht und sind sehr interessiert, was ich alles erlebt und gesehen habe. Meinen Rother- GTA- Führer blättern beide begeistert durch; gut, dass es ihn auch auf Französisch gibt, hier sind zwei potenzielle Kunden. Zum Schluss schaut auch noch einmal Guy vorbei und verabschiedet uns.
Es war eine sehr angeregte Stunde, und wieder einmal ist es schade, dass man sich nur so kurz sieht. Dass ich diese Unterhaltung ohne Google- Übersetzer in Französisch geführt habe erfüllt mich als frankophilen Autodidakten mit Stolz, auch wenn es eine hohe Fehlertoleranz bei meinen Gesprächspartnern erfordert. Erinnerungen kommen auf an meine Arbeitskollegin in Paris, mit der ich bei meinen Dienstreisen dorthin während der Mittagspause eisern Französisch reden musste, so unsere Übereinkunft; diesen Gesprächen habe ich viel zu verdanken.
Guy zeigt mir zum Schluss noch, wo ich in den Weg nach Belvédère einbiegen kann, und eine Viertelstunde später bin ich dort. Das hätte ich gestern wirklich einfacher haben können.
Auf dem Weg versuche ich telefonisch, meine Reservierung für heute Abend im Hotel Le Ranch zu fixieren; gestern hatte mein Wunschhotel am Col de Turini abgesagt, da Übernachtungen in der Nebensaison nur noch am Wochenende möglich seien, und meine Homepage- Anfrage bei Le Ranch blieb bislang unbeantwortet. Mein Gesprächspartner ist zwar nicht der freundlichste, jedoch habe ich nun ein Bett oben am Pass sicher.
In Belvédère suche ich nach einer Bäckerei und frage einen älteren Passanten um Rat. "Pas de Boulangerie, pas de pain" antwortet er achselzuckend, "et pas de croissants" antworte ich. Er meint, dass ich vielleicht in La Bollène etwas zu Essen bekäme. Schade, aber nicht zu ändern, zwei Snickers und ein paar Kekse habe ich ja noch im Rucksack.
Heute steht meine letzte richtige Gebirgsetappe an. Zwar werde ich wie gestern eher durch eine mittelgebirgsartige Landschaft wandern, jedoch erwartet mich heute Nachmittag noch einmal ein ordentlicher Anstieg von 1.000 Höhenmetern bis hinauf zum Col de Turini. 
Das Wetter ist ein wenig bedeckt, aus Richtung Meer leuchtet jedoch blauer Himmel herüber - über der Côte d‘Azur scheint die Sonne.
Ich lasse Belvédère rasch hinter mir, nach einem Zwischenabstieg in ein Tälchen präsentiert sich mir das Dorf noch einmal im Rückblick. 
Etwas später liegt am Hang gegenüber bereits das nicht minder pittoreske Dorf La Bollène- Vésubie.
Das dazwischenliegende Tal ist schnell überwunden.
La Bollène ist ein etwas größerer Ort, und ich finde einen kleinen Alimentari- artigen Gemischtwarenladen, der mir neben einer Cola auch Baguette und Croissants verkauft. Die Straße herunter gäbe es zudem auch einen Fischladen von erstaunlicher Größe für diesen doch eher beschaulichen Ort.
Am Ortsausgang steht nun auch der Col de Turini auf dem Wanderschild. Statt bergauf geht es jedoch auf einer Straße deutlich bergab, einige Serpentinen lassen sich dabei auf Fußwegen abkürzen.
Erst beinahe ganz unten, etwa 100 Meter über dem Talgrund der Vésubie, zweigen GR52A und VIA ALPINA schließlich vom Hauptweg ab, und es beginnt der letzte große Anstieg meiner Tour. Durch lichten Laub- und Kiefernwald wandere ich in vielen Kehren bei angenehmer Steigung bergauf. Inzwischen ist auch die Sonne herausgekommen. 
Eine Stunde weiter oben öffnet sich noch einmal der Blick nach Norden: Über dem Tal der Vésubie ist Belvédère gut zu sehen, und dahinter die Berge des Mercantour. So alpin wie dort wird es wohl nicht mehr werden in den noch anstehenden Tagen.
Der weitere Aufstieg verläuft unspektakulär und ohne größere Anstrengungen weitgehend über Forststraßen, wieder einmal sehe ich stundenlang keinen Menschen.
Dann stehe ich ohne mich groß verausgabt zu haben um kurz vor halb vier am Col de Turini, meinem letzten richtigen Alpenpass. Hier oben treffen drei in unterschiedliche Täler führende Straßen aufeinander. Diese Strecken sind ein Mekka für Rad- und Motorradfahrer, entsprechend herrscht ein Kommen und Gehen der Zweiräder.
Das Hotel Le Ranch liegt direkt an der Passhöhe. Mein Empfang durch die Wirtin ist äußerst unterkühlt, was sich mit den in den Google-Kritiken hinterlegten Eindrücken vorheriger Gäste deckt. Aber das winzige Zimmer - eigentlich passt nur das Bett rein - und das dazugehörige Bad sind sauber, mehr brauche ich ja nicht.
Zum vielleicht letzten Mal wasche ich im Waschbecken mein Wanderhemd durch, dann recherchiere ich die Übernachtungsmöglichkeiten für die nächsten zwei Tage. Im Hinterland der Côte d‘Azur sind die Unterkünfte wie es scheint dünn gesäht und weitgehend ausgebucht. Allein das Hotel in Peille hieße mich gegen eine Zahlung von 214 Euro pro Nacht ohne Frühstück willkommen. Also reserviere ich kurzerhand per Telefon auf dem Campingplatz in Sospel einen Zeltplatz für zwei Nächte, was mich einerseits insgesamt nur 22 Euro kostet, andererseits jedoch eine zusätzliche Hin- und Herfahrt mit dem Zug zwischen Peille und Sospel erfordert.
Das Abendessen ist ganz ok, es gibt neben einem leckeren Salat mit Ziegenkäse sogar ein Rumpsteak. Jedoch stelle ich wieder einmal fest, dass die Franzosen beim Steak unter Medium etwas anders verstehen als wir, nämlich in der Mitte noch fast roh, das wäre bei uns eher als Englisch durchgegangen.
Der Patron ist ein komischer Kauz: Er trägt stets einen Cowboy- Hut, vielleicht meint er, dass dies passend ist zum Namen des Hotels; dazu ist er sehr muffig, genau wie seine Partnerin, die ich ja vorhin schon kennengelernt hatte. Lorbeeren in den Beurteilungen lassen sich so nicht gewinnen, aber anscheinend scheint dies egal zu sein.
Als ich im Bett liege fängt es draußen an zu regnen. Das kümmert mich jedoch nicht, denn der Wetterbericht sagt für morgen wieder einmal Sonne voraus - wie so oft in diesem märchenhaften Sommer.

Glück des Tages: Die hohen Berge im Rückspiegel, das Ziel ist nahe.

Gelaufen: 22,4 Kilometer
Bergauf: 1.269 Hm 
Bergab: 538 Hm  
Höchster Punkt: Col de Turini (1.607m)
Übergänge: Col de Turini 
Gipfel: keine 

Freitag, 23. September 2022

105. Tag: 06. September 2022 Saint Martin-Vésubie - Belvèdére

Da ich ja gestern schon bezahlt hatte und ich mich heute selbst um das Frühstück kümmern muss – was ja angesichts der zentralen Lage der Gîte recht einfach ist – kann ich direkt nach dem Zusammenpacken meiner Siebensachen aufbrechen.
Wieder besuche ich den kleinen Supermarkt und die Boulangerie, setze mich dann auf eine Bank gegenüber der Mairie und genieße ein richtiges Frühstück unter blauem Himmel.
Dabei schaue ich dem Treiben auf dem Platz vor mir zu, Leute kommen und gehen, es ist richtig was los; zum ersten Mal seit Susa beobachte ich halbwegs urbanes Leben.
Schließlich drehe ich noch einmal eine kleine Sightseeing- Runde zwischen den alten Häusern im Zentrum und werfe einen Blick in die hübsche, opulent ausgestattete Kirche.
Die örtlichen Straßennamen pendeln zwischen lokaltypisch und eher ungewöhnlich.
Am Ortsrand treffe ich auf die Blaue VIA ALPINA, der ich ab jetzt bis fast ans Meer folgen werde, sowie den parallel verlaufenden GR52A, der den Parc National du Mercantour umrundet. Belvédère steht auch schon dran.
Für anderthalb Stunden geht es nun beinahe eben über eine Straße, erst geteert, dann geschottert. Der Blick zurück auf Saint Martin gibt noch einmal einen Blick auf das Ausmaß der Verwüstungen der Hochwasser- Katastrophe. Deutlich friedvoller ist der Blick auf die umliegenden Berge und das Tal der Vésubie hinunter, über dem bereits das Tagesziel Belvédère sichtbar ist.
Der Weg scheint auch als Schrottplatz für Altautos zu fungieren, die einfach am Rand abgestellt werden. Vom 2CV bis zum R4-Kombi stehen diverse Typen vorzugsweise aus den 80ern herum und gammeln vor sich hin, zum Teil sogar noch mit angeschraubten Nummernschildern.
In Le Bioulet endet der Fahrweg. Hier pflücke ich in einem verwilderten Garten mit Hilfe meiner Wanderstecken ein paar dreiviertelreife Birnen, die phantastisch schmecken. Die Brombeerzeit scheint dagegen vorbei zu sein: Zwar locken die üppigen schwarzen Früchte meinen Naschinstinkt, jedoch sind sie trotz aller äußeren Pracht innen weitgehend trocken und ohne Geschmack.
Nach Überschreiten eines Geländerückens geht es tief hinab bis an den Rand des Dorfes Berthemont-les-Bains. Nach dem gestrigen Höhenmeter- Overflow entscheide ich hier, dass die Bergwertungen heute beendet sind; die VIA ALPINA überquert nämlich anschließend auf dem Weg nach Belvédère mit einem ziemlichen Aufwand an Höhenmetern einen weiteren Höhenzug, den ich mir so erspare. Statt dessen steige ich in einigen Straßenkehren bis zur im Talgrund der Vésubie verlaufenden Route des Grandes Alpes. Dort angekommen erfahre ich quasi im Vorbeigehen, dass es nur noch 56 Kilometer bis zur Côte d‘Azur sind.
Am Rand der Hauptstraße wandere ich ganz entspannt die nächsten Kilometer bis nach Vieux Village am Rande des Städtchens Roquebillière, wo über den Hochwasserspuren bereits eine neue Brücke errichtet wurde.
Die Serpentinen der Straße hinauf nach Belvédère lassen sich größtenteils auf kleinen Fußwegen abkürzen, so dass ich um viertel nach 5 das pittoreske kleine Dorf erreiche. Nach einem kleinen Rundgang betrete ich die Touristinformation und frage, wie ich zu meiner Gîte d‘Etape kommen könnte; ich weiß neben dem Namen lediglich, dass diese etwas außerhalb liegt und dass deren Homepage gelinde gesagt nur bruchstückhafte Informationen bietet, vor allem über deren genauen Lage. Ich störe die junge Frau hinter dem Tresen offensichtlich bei hochwichtiger Daddelei auf ihrem Privathandy. Trotzdem versucht sie mir nach kurzer Web-Suche mit Ansätzen von Freundlichkeit zu erklären, dass sie keine Ahnung habe, wo meine Unterkunft sei. Das kann ich so nicht stehen lassen, immerhin ist Belvédère dem Anschein nach recht überschaubar und nicht zum Beispiel Paris, wo man als Angestellte der Touristenbetreuung vielleicht schon einmal den Überblick verlieren kann. Die Dame weiß sich nun nicht anders zu helfen, als einen gegenüber mit seinem kleinen Sohn Fußball spielenden Mann anzusprechen, ob er wüsste, wo ich hinzuschicken sei. Er bejaht und gibt mir eine gut nachvollziehbare Wegbeschreibung; in weniger als 10 Minuten sei ich da. Ich bedanke mich und spaziere kleine Gassen und Treppen wieder hinunter, bis ich mich vor einem Schild „Gîte d‘Etape“ wiederfinde. Leider stellt sich rasch heraus, dass dies das falsche Etablissement ist. Meine Unterkunft sei ganz woanders, meinen die Männer, die vor dem Haus stehen, und geben mir eine ungefähre Wegbeschreibung mit der Entfernungsangabe „une heure“.
Ich gehe also zurück ins Dorfzentrum, wo natürlich die Touristeninfo inzwischen geschlossen hat und auch sonst kaum jemand mehr auf den Straßen unterwegs ist; außer einem ausverkauften Obstladen hat auch keines der wenigen Geschäfte mehr offen. Das ist auch insofern ungut, als dass ich weiß, dass ‚meine‘ Gîte kein Abendessen bereitstellt. Was nun? Ich kaufe das einzige, was der Obstladen mir noch Brauchbares zur Verfügung stellen kann, vollständig auf.
Dann setze mich auf eine Bank und versuche, die Unterkunft anzurufen. Es geht aber lediglich ein Anrufbeantworter dran, der eine alternative Telefonnummer durchsagt, dies jedoch in einem Tempo, dem ich auch bei mehrmaligem Anhören nicht folgen kann.
So recherchiere ich noch einmal auf deren inhaltsarmen Homepage, ob es nicht doch irgendwelche Anhaltspunkte gibt. Da: In einem Untermenü lässt sich eine GoogleMaps- Karte aufrufen, und wenn man weit genug reinscrollt auch eine Örtlichkeit lokalisieren; diese deckt sich mit der Angabe, wenn man die Gîte bei Google eingibt – Bingo. Leider ist dies eine knappe Stunde entfernt, was sich jedoch auch wieder mit der Entfernungsangabe deckt, die ich bei der ungenauen Wegbeschreibung in der falschen Gîte bekommen habe.
Eine Wanderstunde später stehe ich in nachlassendem Licht exakt da, wo Google mich hingelotst hat. Leider befindet sich hier nur ein verlassenes Ferienhaus. Das darf doch nicht wahr sein – den ganzen Weg von Wien bis hierhin klappt alles bestens, und nun erlebe ich zwei Tage hintereinander solch ein Desaster.
Begleitet von dem ein oder anderen Fluch - zu deutsch: Ich bin mittelschwer ausgerastet - überlege ich nun, was ich mache; zur körperlichen und seelischen Abkühlung öffne ich dabei eines der beiden Biere aus dem Obstladen. An einer Zeltnacht hier in der für mich nicht einschätzbaren Pampa zwischen den Dörfern habe ich überhaupt kein Interesse. Ich vertiefe mich also noch einmal in meine Handy- Kartenapps und durchsuche mit jeder von ihnen bei großer Vergrößerung Quadratmeter für Quadratmeter die Umgebung von Belvédère. Und werde schließlich fündig: Die App mapy.cz, auf der ich sonst meist nur navigiere wenn ich Informationen über das Geländerelief brauche und die jetzt auch erst meine dritte Wahl war, zeigt etwa zweieinhalb Kilometer von mir tatsächlich eine Übernachtungsmöglichkeit mit dem Namen „Les Condamines“ an. Genau so heißt auch die Gîte. Zu verlieren habe ich nichts, also mache ich mich sofort auf den Weg.
Eine halbe Stunde später sehe ich zunächst einen Wegweiser „Gîte d‘Etape“ und atme tief durch.
Dann stehe ich schließlich vor der am Ende eines langen Wirtschaftsweges gelegenen Unterkunft. Guy, der Eigentümer, begrüßt mich freundlich, er und seine Frau sind eben vom Pilzesammeln zurückgekommen und breiten ihre Ernte auf der Terrasse aus. Sie haben nicht mehr mit mir gerechnet, erzählt er mir, während er mir die Unterkunft zeigt. Meinen Hinweis, dass die GoogleMaps-Angabe auf der Homepage nicht stimmt, begegnet er mit einem lockeren Lächeln. Ja, die stimme wirklich nicht, daher hat er vor Belvédère direkt am GR52A ein Schild aufgestellt, denn von da kommen ja die meisten Wanderer; wer aber wie ich aus Richtung des Ortes komme, tappe tatsächlich im Dunklen. Dass das Touristenbüro nicht wisse wo seine Gîte ist wäre schon blöd, da müsse er wohl noch einmal informieren. Ist dies die südfranzösische Nonchalance, die Peter Mayle in seinen Provence- Büchern so wunderbar beschrieben hat, während sie ihn in den Wahnsinn trieb?
Guy jedenfalls ist so freundlich, dass man ihm überhaupt nicht böse sein kann. Im Gegenteil, er bringt mir auf meine vorsichtige Anfrage hin, ob ich vielleicht noch eine Scheibe Brot und ein wenig Käse bekommen könnte, alle Bestandteile eines leckeren Abendessens in den Aufenthaltsraum, so dass ich tatsächlich nicht hungrig ins Bett gehen muss. Tief dankbar breite ich nach dem Duschen alles auf dem Esstisch aus.
Während ich esse kommen die beiden anderen Übernachtungsgäste, Gilles und Alain aus der Nähe von Genf, von ihrem abendlichen Gang ins Dorf zurück. Wir begrüßen uns kurz, dann gehen die beiden in den Schlafbereich.
Ich lasse mir den Rest meines Abendmahls schmecken und sinniere hoffnungsvoll, das die noch kommenden vier Tage hoffentlich wieder ähnlich ruhig verlaufen werden wie die ersten 103.

Glück des Tages: Noch ein Abendessen bekommen zu haben.

Gelaufen: 29,5 Kilometer
Bergauf: 935 Hm 
Bergab: 941 Hm  
Höchster Punkt: Höhenrücken bei Le Bioulet (1.539m)
Übergänge: keine
Gipfel: keine 

Donnerstag, 22. September 2022

104. Tag: 05. September 2022 Refuge de la Madone de Fenestre - Saint Martin-Vésubie

Heute möchte ich zum letzten Mal hoch hinaus: Der Weg nach St. Martin- Vésubie soll mich heute über die 2.700 Meter hohe Cime de l‘Agnellière sowie später Cime du Pisset und Cime de Piagu führen. Dafür muss ich zunächst ein Stück des gestrigen Abstiegsweges wieder zurück und hinauf, bis nach links der Steig zum Pas des Landres abzweigt. 
Direkt am Sanctuaire de la Madone beginnt der Nationalpark Mercantour, worauf ein unübersehbares Schild hinweist.
Der Aufstieg macht Spaß, ich komme gut voran in einer wilden Hochgebirgslandschaft.
Am Pass teilt sich der Weg: Der größere würde über den Pass hinweg auf dem Fernwanderweg GR52 nach Norden zum Refuge de la Cougourde führen, der kleinere folgt dem Bergkamm hinauf in Richtung der Cime de l‘Agnellière. In diesen biege ich ein. Auch hier komme ich gut und ohne Schwierigkeiten bergauf. Schon ziemlich weit oben, als der Steig auf die Westseite des Kammes wechselt, überrasche ich eine Gamsgeiß mit ihrem Kitz beim späten Frühstück zwischen den Felsblöcken. Im Gegensatz zu den Steinböcken, die nicht bejagt werden, reagieren Gemsen auf Menschenkontakt mit Flucht. So auch diese beiden, die in eleganter Manier etliche Höhenmeter zwischen uns bringen und tief unten bald nicht mehr zu sehen sind. Nichts liegt mir ferner, als Gemsen zur hohen Flucht zu bringen, aber hier hatte ich wohl keine Chance, dieses zu vermeiden.
Eine Viertelstunde später habe ich den nächsten Wildkontakt: Auf einem Felszacken, den ich von unten fälschlicherweise bereits für den Giofel der Cime gehalten habe, scheint eine großes Adler- Statue errichtet zu sein. Als ich näherkomme erwacht diese plötzlich zum Leben, schwingt sich in die Luft und beginnt über mir zu kreisen, zusammen mit zwei oder drei Artgenossen, die sich in einiger Entfernung ebenfalls vom Aufwind treiben lassen. Welch ein Anblick, diese großen Greifvögel ohne jede Flügelbewegung elegant ihre Runden drehen zu sehen.
Auf einem Schotterfeld zwischen dem nun deutlich identifizierbaren Gipfel der Cime und einem flachen Vorgipfel endet unvermittelt der bis dahin gut gebaute und markierte Steig. In Richtung Einstieg zum Hauptgipfel sind noch einige Trittspuren zu erkennen, in Richtung der Überschreitung nach Westen dagegen nichts mehr. Ich steige erst einmal zu diesem Vorgipfel auf, um eine kurze Pause einzulegen und danach weiterzusehen. Als ich an der höchsten Stelle angelangt bin und per Peakfinder- App die Namen der nahegelegenen Gipfel identifizieren möchte, bin ich zunächst überrascht, dass ich von hier oben bei optimaler Sicht bis nach Korsika sehen könnte. Dann stockt mir der Atem: Im Dunst kann ich weit entfernt das Meer sehen, kaum erkennbar bei den heutigen Bedingungen, aber das ist eindeutig Cap Antibes, das ins Mittelmeer hineinragt.
Damit habe ich heute überhaupt nicht gerechnet, der Blick trifft mich wie ein Schlag; ich setze mich hin, ein wenig benommen, ein paar Tränen sind auch dabei, und sage es mehrmals zu mir selbst, um es irgendwie erfassen zu können: „Da hinten liegt das Meer!“ Gut erkennbar ist auch, dass die hohen Berge nur noch hier im Bereich des Alpenhauptkamms zu finden sind, das Geländeprofil in Richtung Küste zunehmend zahmer wird.
Eine halbe Stunde bleibe ich hier sitzen und genieße den Anblick, dann reiße ich mich los, denn ich will und muss ja noch weiter.
Leider findet sich im Geröll und Schutt trotz Karteneintrag kein verlässlicher Steig, um meinen Weg hier oben fortsetzen und am Kamm entlang weiterwandern zu können. Die GPS- Anzeige ist zu ungenau, um zwischen den unübersichtlichen Felsblöcken und am Rande einer steilen Geländekante verlässlich auf den Meter genau navigieren zu können. Eine Vielzahl von Steinmännern suggeriert, dass an ihnen der Weg vorbeiführt beziehungsweise dass sie ihn markieren; jedoch sind es zu viele und sie sind an zu unterschiedlichen, sich teilweise auch widersprechenden Stellen errichtet, um in irgendeiner Weise eine Hilfe zu sein. So bleibt mir nach einigem vergeblichen Suchen nur die bittere Entscheidung: Hier findet heute keine Überschreitung statt, da ich den Weg nicht finde und ich nicht auf gut Glück irgendwo hinsteigen möchte. Also muss ich zurück, den ganzen Weg bis zum Refuge, 800 Höhenmeter und sieben Kilometer retour.
Einerseits fluche ich laut und vernehmlich über diesen Zusatzaufwand, andererseits konnte ich von dort oben das Meer sehen. Vergeblich war der Aufstieg also nicht.
Fast vier Stunden nach dem ersten Aufbruch erreiche ich um kurz vor 12 wieder das Refuge und fülle noch einmal mein Wasser auf. Der blaue Himmel des Morgens hatte bereits vor einiger Zeit einige Schleier bekommen, nun beginnen die ersten Quellwolken zu wachsen; ich verschwende also keine Zeit und beginne unweit der Hütte den Aufstieg wieder zum Kamm hinauf.
Ein paar Serpentinen sind zu erarbeiten und zwei rinnenartige Seitentäler zu queren, dann stehe ich unweit der Cime du Pisset wieder auf dem Grat.
Der Weg vereinigt sich hier mit dem von oben kommenden, den ich vorhin an der Cime de l‘Agnellière nicht gefunden hatte, und folgt mit schöner Aussicht dem in westlicher Richtung verlaufenden Höhenzug. 
Das ist schönes Wandern und macht richtig Spaß. Leider setzt sich am Gipfel der Cime de Piagu, die vor mir aufragt und die ich eigentlich überschreiten möchte, bald eine dunkle Wolke fest, die schnell an Volumen gewinnt; auch ringsum trübt es sich sukzessive ein. Während ich auf das dynamische Geschehen zuwandere, erscheint es mir zunehmend zweifelhaft, dort hinüber zu kommen, da ich mich über noch mindestens zwei weitere Stunden auf und direkt neben dem Grat befinden würde.
Jedoch habe ich mich nicht ohne Plan B auf diese Gratwanderung begeben, zumal mich Massimo gestern auf mögliche Schauer und Gewitter am späten Nachmittag hingewiesen hatte. In der Scharte vor dem Grataufschwung zum Gipfel zweigen nach Norden und Süden Abstiegsrouten ab, von denen ich den südlichen hinab ins Vallon de Fenestre und zur Talstraße wähle, die mich auch nach St. Martin- Vésubie bringen würde. Ein Wanderschild zeigt auch genau dies an, und ein mit gelben Zeichen markierter Steig führt hinab. Diesem folge ich etwa 300 Höhenmeter abwärts bis zu den Baracken der Alm La Mairis. Neben dieser grast einsam ein Stier, der jedoch von mir keine Notiz nimmt.
Auf einer Wiese etwas unterhalb der Alm soll sich laut Karte der Weg teilen; jedoch gibt es vor Ort keinen entsprechenden Hinweis, im Gegenteil hören genau hier die Markierungen und auch die Steiganlage auf. Ich irre nun eine halbe Stunde kreuz und quer über die Wiese und den angrenzenden Wald, um mit GPS-Hilfe den Weg wiederzufinden, und finde sogar noch ein wenig tiefer noch einmal eine einzelne Markierung an einem Baum. Trotz allem Suchen bleibt dies jedoch der einzige Hinweis, dass sich hier eventuell ein Weg befindet, zudem befinde ich mich nun oberhalb eines steilen Waldhangs, in den ich ohne Not keinesfalls einsteigen möchte. Ich muss also schweren Herzens erneut die Entscheidung treffen, dass Umkehr die einzig vernünftige Option ist. Leider bedeutet dies inzwischen fast 400 Höhenmeter Wiederaufstieg zurück auf den Kamm, den ich ja eigentlich verlassen wollte. Merde!
Auf dem Weg nach oben begegne ich wieder dem Stier, der jedoch ebenso lethargisch ist wie zuvor. Viel ärger ist, dass oberhalb von mir auf einmal wütendes Hundegebell zu hören ist, und ich unversehends drei großen Hütehunden gegenüberstehe, die exakt so furchterregend aussehen wie ich sie bisher nur aus Beschreibungen und Warnhinweisen kannte. Was tun? Rückzug - wie eigentlich empfohlen - geht nicht. Also rede ich beruhigend auf die drei ein, während ich penibel dem hier ja wieder erkennbaren Steig nach oben folge. Für die Hunde ist dies wohl akzeptabel, trotz wildem Gebells kommen sie nicht näher und lassen mich schlussendlich passieren.
Als ich wieder oben auf dem Grat am Wanderschild stehe, das das Holz nicht wert ist aus dem es gemacht wurde, sind seit Beginn des Abstiegs mehr als zwei Stunden vergangen. Die Wetterlage hat sich nicht entspannt, eher im Gegenteil. Während ich nun nachdenke und auf der Navi-App prüfe, was zu tun ist, läuft eine junge Joggerin auf mich zu und fragt mich auf Englisch, ob der Weg zum Gipfel führt; ich antworte auf französisch, sie bittet jedoch um Antwort auch in Englisch, offensichtlich also keine Einheimische. Nachdem ich ihre Frage bejaht habe, setzt sie unverdrossen ihren Lauf fort mitten hinein in die dunkle Wolkenfront. Jeder ist seines Glückes Schmied, denke ich, ich gehe da nicht weiter, zumal es inzwischen bereits fast dreiviertel fünf ist. Einzig verbleibender vernünftiger Ausweg - außer dem langen Rückmarsch zum Refuge de la Madone -, ist nun der Abstieg nach Norden ins Nachbartal, in dem ich laut Karte irgendwann auf einen großen Wanderparkplatz treffen werde. Dort wird sich hoffentlich eine Mitfahrgelegenheit ergeben, ansonsten steht mir noch ein Straßenhatscher bevor.
Der Weg hinunter rauscht an mir vorbei, ich will nur noch diesen Pannen- Tag zu Ende bringen. In endlosen Serpentinen geht es durch Bergwald bergab, einzig Berichtenswertes sind die vielen Fliegenpilze unterwegs.
Dann sehe ich endlich durch die Bäume den Parkplatz. Drei Autos stehen dort, ein viertes fährt gerade an. Ich laufe winkend die letzten Meter aus dem Wald heraus, der Fahrer sieht mich, hält an und lässt die Scheibe herunter. Es ist ein junger Mann von der örtlichen Forstverwaltung. Ja, klar kann er mich mitnehmen, er fährt bis St. Martin. Puh, Glück gehabt.
Bei der viertelstündigen Fahrt das Tal hinunter erzähle ich ihm von meinem heutigen Wander- Missgeschick, gleich zweimal einen vorher gut markierten Weg im Gelände nicht mehr gefunden zu haben und umkehren zu müssen, trotz GPS und zum ersten Mal seit Wien überhaupt. Dann kommen wir an den Spuren der verheerenden Überschwemmung von 2020 vorbei; der ganze Talboden ist streckenweise wie weggewischt, teilweise stehen Häuser direkt an der Abbruchkante über dem Abgrund. Erinnerungen an die Bilder aus dem Ahrtal kommen auf. Vieles sei inzwischen bereits weggeräumt, das hätte hier katastrophal ausgesehen, meint Philippe, mein fahrender Retter.
Der Ortskern von St. Martin-Vésubie liegt etwas oberhalb, so dass er verschont wurde. Philippe lässt mich an der Place Charles de Gaulle raus. Von hier aus sind es nur noch wenige Schritte zur „Gîtes d‘etape La Rougière“. Hélène, die im Nachbarhaus wohnende Inhaberin, öffnet mir und führt mich durch die Räumlichkeiten. Ich könne mir ein Zimmer aussuchen, außer mir erwartet sie später am Abend nur noch eine einzelne Radfahrerin; Duschen sei kostenlos, Boulangerie und Supermarkt gleich um die Ecke - besser geht es nicht nach so einem verkorksten Tag. Ich möge nur bitte heute noch bezahlen, ergänzt sie freundlich; das erledigen wir sofort.
Im Licht des frühen Abends mache ich noch eine kleine Entdeckungstour durch den Ort. 
Er gefällt mir sofort mit seinen hübschen Häusern, dem kleinen Bach, der in einer Rinne mitten durch das mittelalterliche Zentrum fließt, und überhaupt der spürbaren südfranzösischen Stimmung - die „richtigen“ Alpen liegen hinter mir.
Anschließend decke ich mich für das Abendessen ein mit herrlich duftendem Baguette aus der Boulangerie.
Dazu gibt es Käse und Rillettes sowie Bier von FISCHER aus dem Elsaß; ein französisches Abendessen genau nach meinem Geschmack.

Glück des Tages: Das Gefühl, in Südfrankreich angekommen zu sein.

Gelaufen: 23,7 Kilometer
Bergauf: 1.570 Hm 
Bergab: 1.777 Hm  
Höchster Punkt: Cime de l‘Agnellière- Vorgipfel (2.691m)
Übergänge: keine
Gipfel: Cime de l‘Agnellière- Vorgipfel

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...