Dienstag, 20. September 2022

103. Tag: 04. September 2022 Rifugio Genova - Refuge de la Madone de Fenestre

Mein letzter Tag in Italien. Seit ich vor fast zwei Monaten am 11. Juli, meinem 48. Tag, am Stilfser Joch Südtirol verlassen habe, bin ich nur noch im Italienischen unterwegs, selbst in den drei Tagen in der Schweiz. Das erste Mal in Italien war ich sogar noch deutlich früher, am 18. Juni, als ich von Slowenien kommend in Tarvisio übernachtete. Italien war der zentrale Teil meiner Alpenüberquerung: Land, Leute und vor allem die Küche habe ich lieben gelernt. Inzwischen kann ich per Telefon auf Italienisch Schlafplätze reservieren sowie mich in Italienisch-französischem Sprachmix ganz brauchbar artikulieren. Heute werde ich nach Frankreich überwechseln, und es wird ein weiteres Kapitel meiner Tour aufgeschlagen.
Nach dem Nebel gestern Nachmittag und Abend ist der Himmel heute wieder strahlend blau. Der Sonnenaufgang reflektiert sich dabei stimmungsvoll auf den Bergen jenseits des Stausees.
Direkt nach dem Frühstück verabschiedet sich Urs. Er hat sich für heute eine GTA- Doppeletappe mit 10 Wanderstunden bis nach Trinità vorgenommen und dementsprechend keine Zeit zu verlieren. Ich frage derweil beim Hüttenwirt, ob er eine Idee für meine desolaten Bergschuhe hat; er hat ja vielleicht schon einmal solche Probleme bei Gästen auf der Hütte gesehen. Ihm fällt jedoch auch nur eine Tape-Lösung ein und hilft mir direkt mit seinem Klebeband bei der ‚Erstversorgung‘.
Bei den ersten Metern heute zeigt sich die direkt über mir aufragende Cima Argentera in allerfeinstem Licht; ich bleibe mehrmals stehen, um diesen phantastischen Anblick zu genießen.
Die 450 Höhenmeter hinauf zum Colle di Fenestrelle bieten auch wunderbare Rückblicke, sind ansonsten jedoch bis auf den kleinen See kurz vor der Passhöhe unspektakulär.
Hier holen mich wie schon gestern Antonia und Manuel ein; auch von ihnen verabschiede ich mich, als wir oben zusammen pausieren.
Von hier oben kann man bereits meinen zweiten heutigen Pass sehen, den beinahe gleich hohen Col de Fenestre. Dazwischen muss ich leider tief hinunter in den Talgrund des Piano del Prajet, der Abstieg bedeutet gute 600 abzubauende und anschließend wieder aufzusteigende Höhenmeter.
Unten steht direkt der nächste Abschied an: Die GTA folgt links dem Tal hinunter, während ich hier nach rechts zum Talschluss abbiege. Am 24. Juli habe ich in Campello Monti den ersten GTA- Wegweiser gesehen und mit nicht wenig Ehrfurcht meine ersten Schritte auf die Grande Traversata delle Alpi gesetzt. Bis dahin hatte ich immer gesagt, wenn ich nach meinem Weg durch die Alpen gefragt wurde: „Ja, und dann laufe ich noch fast die ganze GTA runter“; nun bin ich ganze sechs Wochen auf ihr gewandert und biege jetzt in Richtung Côte d‘Azur auf die Zielgerade meiner Tour ab. Vor einigen Tagen hatte ich ja schon einmal resümiert, dass mich die großartige GTA und insbesondere ihr südlicher Teil sehr beeindruckt hat. Dem ist nichts hinzuzufügen, außer dem aus dieser Begeisterung entspringenden festen Vorsatz, die mir ab hier im Süden noch fehlenden zehn Etappen bis Ventimiglia irgendwann noch zu erwandern. Arrivederci, GTA, tornerò.
An dem leicht erhöht liegenden Rifugio Soria-Ellena vorbei laufe ich dem Talschluss entgegen, über dem sich der Alpenhauptkamm und die Passhöhe des Col de Fenestre erhebt. Ganz oben ist wieder eine Militärruine erkennbar, zu der natürlich auch wieder eine solide Weganlage hinaufführt.
Parallel zu mir steigt eine israelische Jugendgruppe auf, erkennbar an einer am Rucksack befestigten Fahne. Die sechs Jugendlichen sind deutlich schneller als ich unterwegs, bleiben jedoch mehrmals stehen, so dass ich sie immer wieder ein- und schließlich auch überholen kann.
Etwa auf halber Höhe kommen mir auf einmal Dutzende von Menschen entgegen. Mit einem Mann komme ich ins Gespräch, und er erklärt mir, dass heute auf der Passhöhe eine Gedenkveranstaltung für die Flucht französischer Juden im Zweiten Weltkrieg stattfand. Der Col de Fenestre diente im September 1943 als Exilroute für die jüdische Gemeinde von Nizza auf der Flucht vor der Ankunft deutscher Truppen, als diese die italienischen Besatzung ersetzten und sich dadurch die Gefahr einer Deportation drastisch erhöhte. Beim heutigen „Marche de la Mémoire“ hätten sich von italienischer und französischer Seite aufgestiegene Gruppen oben an der Passhöhe zu einer Zeremonie getroffen.
Dunkelste Geschichte selbst in diesem entlegenen Teil der Alpen; aber auch ein Zeichen der Hoffnung, denn einige Juden konnten in Verstecken in italienischen Bergdörfern überleben.
Die Veranstaltung erklärt auch, warum das Rifugio Soria-Ellena ausgebucht war.
Als ich an der Passhöhe ankomme, ist diese bis auf einen der israelischen Jugendlichen menschenleer. Eine schmale Scharte zwischen den Felsen bildet den Übergang mit der französisch-italienischen Grenze, ein schlichter Grenzstein markiert die Stelle, an der ich Frankreich betrete.
Beim Erstellen des Erinnerungsfotos passiert mir ein kurioses Missgeschick: Der Grenzstein hat sich gelockert und fällt um, als ich mich an ihm nach dem Foto abstützen möchte - und ich mit ihm. „La France n'est pas solide“ kommentiere ich lakonisch, als mir der Israeli zu Hilfe kommt.
Jenseits und etwas unterhalb des Cols ist jede Menge los: Im Abstieg überhole ich viele Wanderer, zum Teil in fortgeschrittenem Alter, zum Rasten geeignete Plätze werden intensiv genutzt, und weiter unten am schön gelegenen Lac de Fenestre sitzen jede Menge Wanderer. Mich beschleicht ein ungutes Gefühl, da ich ja noch keine Vormerkung habe für die Hütte, und ich hoffe, dass dies alles oder zumindest überwiegend Teilnehmer der Gedenkveranstaltung oder Sonntagsausflügler sind.
Der Weg hinunter zum Refuge de la Madone de Fenestre zieht sich ziemlich, der Steig will kein Ende nehmen. Über eine Stunde dauert es, bis ich endlich die Hütte erreiche. Sie ist Teil eines Wallfahrtskomplexes, die Kirche ist einer der bedeutendsten Pilgerstätten in den französischen Alpen. Auch hier herrscht ordentlich Betrieb. Ich schlängle mich durch die vielen Menschen hindurch, bis ich in der Hütte vor dem Tresen stehe und nach einem Platz für die Nacht frage. Oui, eine Übernachtung sei „pas de problème“, jedoch nicht in der Hütte sondern im Winterraum. Glück gehabt.
Ich belege mein Bett im gut belegten Schlafsaal, der Platz neben mir bleibt jedoch frei, dann erkunde ich die Wallfahrtsstätte Sanctuaire Madone de Fenestre. Bereits 887 wurde hier an diesem einst bedeutenden Pass das Benediktiner- Kloster ‚Notre-Dame de Grâce‘ mit Hospiz gegründet. Mehrfach zerstört und wieder aufgebaut, ist heute nur noch die Kirche erhalten. In dieser wird im Sommer eine Marienstatue aus dem 14. Jahrhundert aufgestellt, sie ist das Zentrum der Wallfahrten.
Auf Empfehlung von Massimo, einem Mitarbeiters des Nationalparks Mercantour, der neben der Hütte einen Infostand aufgebaut hat, buche ich per Telefon für morgen eine Übernachtung in der Gite d‘Etappe in St. Martin-Vesubie. Als es dann anfängt zu regnen setze ich mich in den Gastraum, der jedoch auch wegen der vielen Gäste ziemlich ungemütlich ist.
Vorbildlich gelöst ist in der Hütte die Frage des Handy- Aufladens: Eine XL-Mehrfachsteckdose mit einem plakatgroßen Hinweis für die Gäste, dass es hier Strom gibt.
Welch Gegensatz zum Hochweißsteinhaus mit seinem „Wie drücke ich auch noch den letzten Euro Ertrag aus den Gästen“- Ansatz bei den Stromanschlüssen.
Beim Abendessen bin ich zunächst nicht eingeplant, da ich meinen Namen auf den Sitzplänen der Tische nicht finde. Meine Rückfrage beim Hüttenwirt sorgt zunächst für Verwirrung, dann werde ich einfach an einen Tisch als zusätzlicher Esser hinzuplatziert. Hier sitze ich erstaunlicherweise zusammen mit einem älteren Ehepaar aus dem heimatlichen Düsseldorf - die beiden sind die einzigen Deutschen außer mir - sowie einem Paar aus dem schweizerischen Aigle und zwei Wanderern aus Paris. Das Essen wird je Tisch in großen Schüsseln serviert; es schmeckt ganz ordentlich, ich merke jedoch bereits jetzt, dass ich nicht mehr im Piemont bin.
Danach gehe ich bald schlafen. Die sanitären Einrichtungen der Hütte sind hinsichtlich des Sanierungsstaus und Ekelfaktors denen in Talosio nicht unähnlich, daher beschränke ich dort alles auf das Allernotwendigste. Dafür ist das Matrazenlager völlig ok, und dank des freien Bettes neben mir kann ich es mir fast gemütlich machen.
Abseits der GTA bin ich ab jetzt wieder alleine unterwegs. Per WhatsApp verabschiede ich mich von Bernd; ich war mir ziemlich sicher, dass er mich noch einmal einholen würde, jedoch hatte er eine andere Etappenplanung und plant nun noch eine Besteigung der Cima Argentera, die zusätzlichen Zeitaufwand bedarf. So bleiben wir bis auf weiteres leider nur noch elektronisch in Kontakt.

Glück des Tages: Es macht Spaß, auf Französisch zu kommunizieren; zugegebenermaßen zwar etwas holprig, jedoch klappt im Endeffekt sogar das Telefonieren.

Gelaufen: 18,4 Kilometer
Bergauf: 1.187 Hm 
Bergab:  1.307 Hm  
Höchster Punkt: Col de Fenestre (2.474m)
Übergänge: Colle di Fenestrelle, Col de Fenestre
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...