Montag, 19. September 2022

102. Tag: 03. September 2022 Terme di Valdieri - Rifugio Genova

Die Seealpen sind hier im Umfeld der Cima Argentera unheimlich zerklüftet, deshalb steht heute auch wieder eine Etappe mit großem Höhenunterschied auf dem Programm: Fast zwölfhundert Höhenmeter sind es hinauf bis zum Pass des Tages, dem Colle del Chiapous.
Nach einem guten Frühstück verlassen Urs und ich das sympatische Posto Tappa Casa Savoia und laufen das kurze Stück zum Grand Hotel hinüber, wo wir uns vor der Tür von den beiden Schweizern Thomas und Michael verabschieden. Außerdem bietet das Hotel den einzigen Brunnen des Ortes für unsere Trinkwasserversorgung; zum Glück kommt normales Quellwasser und nicht das schweflige Thermalwasser aus dem Hahn.
Die GTA führt nun auf einem Saumweg in vielen weiten Kehren durch den Wald bergan und später auf die Nordwand der Argentera und ihren Gipfeln zu. Die Steigung des Weges ist sehr moderat, dafür ‚zahlen‘ wir mit einer deutlichen Verlängerung der Wegstrecke, was auch die heute vergleichsweise hohe Kilometerzahl erklärt.
Weiter oben ist die Aussicht prächtig:  Der gestrige Abstiegsweg durch das Valle di Valasco ist genauso gut zu sehen wie der oberhalb von Terme uns genau gegenüber liegende Monte Matto.
Erst auf etwa 2.000 Metern endet der Wald und entlässt uns in ein wildes felsiges Hochtal direkt unter den Argentera- Wänden, deren Gipfel nun jedoch in den Wolken liegen. 
Etwas weiter oben überholen uns Manuel und Antonia, die sich beim Frühstück mehr Zeit gelassen hatten und bald nicht mehr zu sehen sind.
Am Rande eines Schuttkars etwa 200 Höhenmeter unter dem Pass steht das Rifugio Morelli-Buzzi, das uns zu einer Pause einlädt. Die kleine Hütte erweist sich als sehr gemütlich mit ihrem kleinen Schankraum, in dem das Feuer in einem gusseisernen Ofen Wärme spendet. 40 Plätze plus Notlager bietet die Hütte, bei voller Belegung wird es hier jedoch wahrscheinlich ziemlich eng.
Frisch gestärkt haben wir bald den Colle del Chiapous erreicht. Inzwischen haben die Wolken die Regie am Himmel übernommen, jedoch ist es kaum windig, so dass wir uns auf den Steinen einer direkt an der Passhöhe stehenden Ruine zu einer Pause niederlassen können.
Kaum sitzen wir, steigt am Hang westlich von uns ein Steinbock herab und äst gemütlich direkt am Weg; er kommt uns so auf etwa 30 Meter heran, beäugt uns wenn wir uns bewegen oder Geräusche machen und ist ansonsten völlig entspannt. Er ist hier der Einheimische, das ist klar und das zeigt er auch mit seiner Ruhe, „ich überlebe hier auch die Nacht und den Winter, ihr seid dagegen nur Gast“ scheint er uns zu sagen. Ein tolles beeindruckendes Erlebnis.
Als wir irgendwann doch aufstehen müssen - 500 Höhenmeter Abstieg liegen ja noch vor uns - lässt er uns sogar auf weniger als zehn Meter herankommen, bis er sich mit zwei oder drei Schritten etwas weiter vom Weg entfernt, um uns durchzulassen. Wir wagen kaum zu atmen als wir an ihm vorbeigehen, um ihn nicht zu stören.
Durch einen steilen Hang steigen wir nun vom Pass wieder hinunter. Bald liegt der Stausee Lago del Chiotas unter uns. Da er anscheinend lediglich halbvoll ist besteht sein Ufer aus nackten Felsen und Schotterbänken, die aus Entfernung den Eindruck einer riesigen Baustelle machen; am anderen Seeufer ist bereits das Rifugio Genova zu erkennen.
Eine gute Stunde brauchen wir hinab, bis wir die 130 Meter hohe, wegen des niedrigen Pegelstandes weit aus dem Wasser ragende Staumauer überquerenkönnen. Die Anlage ist der wichtigste Teil des Wasserkraftwerkes Entraque, eines der leistungsstärksten Pumpspeicherkraftwerke Europas.
Da die Hütte am anderen Seeufer liegt, müssen wir den See noch halb umrunden, dann stehen wir im aufziehenden Nebel vor dem Rifugio Genova. Diese Hütte wurde 1981 von der Kraftwerkgesellschaft als Ersatz für die im Stausee überflutete alten Hütte des CAI erbaut.
Außen wie innen ist sie recht nüchtern und einfach; Essen, Trinken und Informationen werden über den Tresen einer kleinen Kammer im Eingangsbereich ausgegeben. Ich bitte den hier tätigen jungen Mann, für mich einen Platz in meiner morgigen Hütte, dem bereits in Frankreich liegenden Refuge de la Madone de Fenestre, zu reservieren; jedoch kommt er wie Urs und ich gestern zu keinem Ergebnis. Seine telefonische Recherche in benachbarten Hütten ergibt jedoch, dass im Refuge wahrscheinlich bereits seit Tagen das Telefon gestört sei. So muss ich dann morgen dort auf gut Glück nach einer Unterkunft fragen. Da Nachsaison sei, wäre das bestimmt kein Problem, werde ich noch beruhigt. Nun denn, Urs wollte heute eigentlich noch bis zum Rifugio Soria-Ellena weiterlaufen, diese Hütte war jedoch gemäß gestriger telefonischer Auskunft bereits voll belegt. Es wird sich was ergeben, denke ich mir, und hake das Thema erst einmal ab.
Viel bedeutsamer: Beim Ausziehen meiner Schuhe stellt sich heraus, dass sich am linken Schuh die Sohle nun großflächig gelöst hat. Hier werde ich morgen wenn die Schuhe trocken sind mit Tape flicken müssen; die letzte Woche werden ich hoffentlich noch irgendwie über die Runden beziehungsweise die Etappen kommen.
Der Gastraum des Rifugio Genova präsentiert sich eher ungemütlich, trotzdem verbringen Urs und ich sowie die schon lange vor uns eingetroffenen Antonia und Manuel einen gemütlichen Nachmittag.
Das Abendessen ist im Widerspruch zum allgemeinen Hüttenambiente ziemlich lecker, besonders das zum Nachtisch servierte Semifreddo alle nocciole, also Halbgefrorenes mit Nüssen, ist ausgezeichnet.
Bei dem ein oder anderen Glas Vino Rosso an diesem Abend sinnieren wir unter anderem darüber, wie sich die während meiner Alpenüberquerung aufgebaute Fitness beziehungsweise das abgebaute Körpergewicht konservieren lassen könnte. Es wäre in der Tat zu schade, wenn dieser Zustand einfach verpuffen würde, das wird mir immer klarer.
Die Hütte ist heute beinahe leer, außer uns übernachten noch drei andere Gäste hier. Urs und ich sind alleine in einem großen Schlafraum, Antonia und Manuel in einem anderen. Wir haben also jede Menge Platz, und die Aussichten auf eine ruhige Nacht sind gut.

Glück des Tages: Der Steinbock am Colle del Chiapous.

Gelaufen: 19,8 Kilometer
Bergauf: 1.272 Hm 
Bergab: 650 Hm  
Höchster Punkt: Colle del Chiapous (2.526m)
Übergänge: Colle del Chiapous
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...