Samstag, 8. Oktober 2022

109. Tag: 10. September 2022 Peille - Monaco

Heute geht sie also zu Ende, meine große Alpenüberquerung. Ein Teil in mir hat diesen Tag herbeigesehnt, spürt Heimweh und die Freude auf das Wiedersehen mit meiner Familie. Ein anderer Teil in mir jedoch ist wehmütig, dass dieses lang geplante Abenteuer, die größte Wanderung meines Lebens, heute vollendet sein soll.
Ich bin sehr früh wach, lausche durch die Zeltwand den Geräuschen des dämmernden Tages. Vor dem geistigen Auge versuche ich, mich an jeden Übernachtungsort der letzten 108 Tage und ein paar Highlights der dazwischen liegenden Strecken zu erinnern. Dies gelingt erstaunlicherweise sehr gut, nur bei den Ortsnamen, vor allem bei den manchmal ähnlich klingenden auf der GTA, bin ich mir gelegentlich nicht ganz sicher.
Um kurz vor sieben schäle ich mich aus dem Schlafsack, ordne meine Sachen, baue das Zelt ab und stopfe schließlich zum letzten Mal alles in den Rucksack.
Zum Glück herrscht heute keine Eile, mein Zug nach Peille fährt erst um halb 10. So kann ich ganz gemütlich wieder nach Sospel wandern und dort beim SPAR den Tagesbedarf und in der Boulangerie das obligatorische Baguette einkaufen.
Ich bin dann zum Glück zeitig am Bahnhof, denn ich habe das Vergnügen, mich zunächst in eine lange Schlange vor dem Ticketautomaten einordnen und diesen dann bedienen zu müssen. Und erlebe eine Überraschung: Die Menüführung des Geräts ist nicht intuitiv, und die Bedienung über ein kugelförmiges Steuerungspanel eine absolute Katastrophe; warum verwendet die SNCF kein Touch Screen wie sonst alle auf der Welt? Jedenfalls scheitere ich kläglich. Zum Glück steht hinter mir in der Schlange ein Teenager, den ich um Hilfe bitten kann. Gewusst wie, ruckzuck habe ich eine Fahrkarte in der Hand.
Die Bahnfahrt von Sospel zum Bahnhof von Peille ist wieder sehr kurzweilig, und um kurz nach 10 Uhr kann ich mit geschultertem Rucksack in den Wanderweg in Richtung Peillon einbiegen. 
Erstes kleines Highlight heute ist gleich hinter dem Bahnhof der anachronistische durch altertümliche Gittertörchen gesicherte Fußgängerüberweg über die Gleise.
Danach geht es 200 Höhenmeter auf einem angenehm zu gehenden Wanderweg hinauf nach Peillon. Die Landschaft um mich herum hat inzwischen nur noch Voralpencharakter, sanfte Hügel prägen das Bild.
Peillon wirkt bereits beim Fernblick durch die Bäume sehr attraktiv, und dieses Bild bekräftigt sich, als ich direkt vor dem Dorf stehe.
Der Gang durch die kleinen Gassen und Treppen macht richtig Spaß: Herrliche alte Häuser im provencalischen Stil stehen eng zusammen, alles wirkt nicht so penibel sauber und damit weniger artifiziell wie mein gestriger Eindruck von Peille.
Wo am höchsten Punkt des Dorfes die Wege zusammenlaufen steht die Kirche, und vom Kirchplatz davor aus hat man sogar ein wenig Aussicht.
Hier lasse ich mich auf einer Bank nieder und frühstücke die aus Sospel mitgebrachten Leckereien. Dabei werde ich scharf beobachtet von einem Hund, der kaum dass ich etwas zu essen ausgepackt habe vor mir auftaucht und - leider vergeblich - seinen schönsten Dackelblick aufsetzt.
Eine Dreiviertelstunde bleibe ich hier sitzen, nichts drängt mich, zum Meer ist es nicht mehr weit.
Auf einem steinigen Pfad wandere ich dann aus Peillon heraus, zunächst geht es noch auf der Höhe des Dorfes am Hang entlang, danach merklich nach oben. Da ich bei diesen gut 200 Höhenmetern bergwärts ein ordentliches Tempo vorlege, komme ich noch einmal ganz gut ins Schwitzen. Am Ende der Steigung kurz vor Saint-Martin de Peille erwische ich im dichten Unterholz einen falschen Pfad, der mir ein paar Extrameter beschert, jedoch keine Probleme, da ich mit GPS-Hilfe schnell wieder auf die VIA ALPINA gelange.
Nun nimmt sukzessive die Swimmingpool- Dichte ebenso stark zu wie um mich herum die Anzahl der Sportwagen italienischer oder Zuffenhausener Provenienz. Ich bewege mich also in die richtige Richtung, „Follow the Money“, genau wie Dustin Hofman und Robert Redford in ALL THE PRESIDENT‘S MEN.
Um einen Marsch an der Hauptstraße nach La Turbie zu vermeiden, schicken einen die Markierungen noch einmal in ein Tal hinab, das unten aus einer Gated Community besteht. Diese lässt jedoch die Wanderer, die sich trauen, die vielen INTERDIT- Schilder zu ignorieren und das Privatgelände zu betreten, durch einen schmalen Eingang passieren und an den Einfahrten imposanter Anwesen entlangspazieren.
Beim Aufstieg hinauf nach La Turbie kommen mir zwei Jakobspilger entgegen, ein Paar etwa in meinem Alter, erkennbar an der Jakobsmuschel hinten an den Rucksäcken, Sie sind auf dem Weg Richtung Santiago.
Hinter mir sind ein letztes Mal einige hohe Berge zu sehen, aus gehöriger Entfernung verabschieden sie mich aus ihrem Kreis.
Am Col de Guerre überquere ich die unsichtbar in einem kurzen Tunnel verlaufende Küstenautobahn LA PROVENCALE und beginne den finalen Anstieg: 70 Höhenmeter durch ein Pinienwäldchen sind es noch bis hinauf zum Mont de la Bataille, dem letzten Gipfel meiner Tour des Alpes, 620 Meter hoch über dem Meer.
Was mich oben erwartet lässt sich kaum in Worte fassen: Monaco liegt unter mir.


Ich setze mich auf einen großen Stein und lasse den Emotionen freien Lauf.
109 Tage bin ich diesem Moment entgegengewandert, entgegengeschwitzt und entgegengefiebert, seit ich in Wien- Rodaun aus der Straßenbahn stieg. Und nun bin ich da. Ich habe es tatsächlich geschafft. Jubel und ein paar Tränen wechseln sich ab.
Am Anfang war das Unternehmen viel zu groß um erfassbar zu sein. Nach Monaco laufen - ein fast irrationaler Plan. Und jetzt stehe ich hier oben und schaue hinunter auf das Fürstentum, dass mit seinem Hafen voller protziger Yachten und den hässlichen Hochhäusern aussieht wie ein kleines Hongkong an der Côte d‘Azur.
Jetzt muss ich nur noch da runter, es geht ab jetzt nur noch bergab. Schnell bin ich in La Turbie, das überragt wird vom imposanten Siegesdenkmal Tropaeum Alpium; errichtet zu Ehren von Augustus und zur Erinnerung an der Unterwerfung von 46 Alpenstämmen im Rahmen der Augusteischen Alpenfeldzüge zwischen 25 und 15 vC.
Weiter geht es bergab, nach Durchquerung des Ortes wandere ich durch einen kleinen Park und anschließend am Hang entlang mit Prachtblick auf das Fürstentum.
Auf einmal klingelt mein Handy: Es ist René, der Thruhiker der Roten VIA ALPINA, den ich zuletzt in den Dolomiten getroffen hatte. Wie ich erfahre, hat er leider in Chamonix seine Tour unterbrochen, als es ihm zeitlich zu eng wurde. Aber er ist guten Mutes und meint, dass Chamonix ein guter Ort für das diesjährige Ende und den Wiedereinstieg im nächsten Jahr sei, und gratuliert mir zu meinem Ankommen. Welch ein Zufall, dass er sich ausgerechnet jetzt meldet, passender geht es ja kaum. Ich drücke ihm fest die Daumen für seinen Tourabschluss in 2023.
Für den letzten Abstieg haben sich die Wegeplaner der VIA ALPINA den wahrscheinlich schwierigsten und schmalsten Pfad ausgesucht, der nach Monaco hinunter führt: Steil und steinig ist es, noch einmal sehr anstrengend und mental fordernd so kurz vor dem Ziel.
Die Grenze Frankreich - Monaco wird markiert durch eine Straße: Auf der einen Seite einzeln stehende Häuser mit zum Teil ein wenig verwilderten Gärten, auf der anderen Seite die artifizielle Welt der mondänen Millionärsstadt mit Hochhäusern und akkurat gestutzten Grünanlagen. Der Grenzübergang ist an dieser Stelle ein simpler Zebrastreifen ohne weitere Markierung.
Über jede Menge Treppen zwischen und zum Teil in den Apartmenthäusern laufe ich nun hinunter. Trotz der exzessiven Bebauung zeigen die Steilheit und der Höhenunterschied des Hanges nachdrücklich, warum Monaco zu den Alpenstaaten zählt.
Einzige Grünfläche auf diesem Abstieg ist der terrassenartig angelegte Parc Princesse Antoinette, in dem heute mehrere Kindergeburtstage gefeiert werden
Wo setze ich das Ziel meiner Tour? Zunächst gehe ich zur Kathedrale; sie ist gewissermaßen das Gegenstück meines Besuches im Stephansdom beim Start in Wien. Die „Cathedrale Notre-Dame-de-L’Immaculée-conception“ sieht in ihrem neoromanischen Stil von außen ein wenig zuckerbäckermäßig aus, der Innenraum strahlt im hellen Hauptschiff jedoch eine beeindruckende Würde aus. Ich halte am Eingang kurz inne, und gehe dann als Cineast selbstverständlich zum Grab von Grace Kelly, die hier inmitten vieler anderer Potentaten des Fürstentums bestattet wurde.
Nach Verlassen der Kirche komme ich am Fürstenpalast vorbei. Ein großer BMW SUV biegt in den Platz ein und passiert das große Palasttor, Wachsoldaten und Polizisten salutieren – ist vielleicht gerade der Fürst himself an mir vorbeigefahren?
Als finalen Punkt meiner Wanderung habe ich mir als James Bond- Fan das Casino Monte Carlo ausgesucht. Der Bau mit der berühmten Fassade zieht die Touristen magisch an, hier herrscht beinahe Volksfeststimmung. Alle die nicht gerade Selfies machen schauen den Ferrari- Posern zu: Die Boliden fahren lautstark vor, die zumeist betagten Fahrer mit ihren Begleiterinnen steigen aus und betreten das Casino, Angestellte im Livrée parken die Fahrzeuge anschließend vor dem Gebäude, inmitten der Menschenmassen. Eine echte Schau, und wohl nirgends kommt man den Sportwagen aus Maranello so nahe wie hier.
Irgendwann muss ich Monaco jedoch verlassen, mein Hotelzimmer wartet ja in Menton auf mich. Der Bahnhof des Kleinstaats ist 20 Gehminuten entlang schicker Schaufenster entfernt.
Dort muss ich wieder einen Fahrkartenautomat konsultieren, dem ich erneut nur mit fremder Hilfe ein Ticket abringe. Die gesamte Station ist unterirdisch angelegt und macht einen eleganten Eindruck.
Eine Viertelstunde dauert die maskenfreie Bahnfahrt nach Menton- Garavan, von dort aus sind es dann noch fünf Geh- Minuten bis zu meinem Hotel El Paradiso direkt an der Uferstraße. Nach dem Einchecken und Einrichten auf dem Zimmer breche ich noch einmal auf, um mir den Sonnenuntergang anzuschauen. Ein kurzes Stück am Hafen entlang, dann ist der Strand gegenüber der Altstadt erreicht; pünktlich, denn gerade geht hinter den Häusern die Sonne unter und schenkt allen die zuschauen bestes Licht.
So stehe ich nun direkt am Meer, symbolisch mit den Schuhen im Wasser; selbst wenn ich wollte, die Alpen sind hier zu Ende und damit auch mein Weg, in der bisherigen Marschrichtung könnte ich nicht mehr weitergehen.
Auf dem Rückweg ins Hotel kaufe ich mir an einer Pizzeria mein Abendessen to go, und die letzten Schritte meiner Alpenüberquerung bringen mich zurück ins Hotel. Diese absolviere ich mit lachendem und weinenden Auge, denn wie heißt es bei Janosch:
Die letzten Meter sind auf meinen Wanderungen immer die schwersten, aber auch die schönsten.
 
Glück des Tages: "We can be heroes, just for one day." (David Bowie)

Gelaufen: 23,2 Kilometer  
Bergauf: 843 Hm   
Bergab: 999 Hm   
Höchster Punkt: Mont de la Bataille (620m)
Übergänge: Col de Guerre
Gipfel: Mont de la Bataille

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...