Samstag, 1. Oktober 2022

107. Tag: 08. September 2022 Col de Turini - Sospel

In der Nacht ging ein heftiges Gewitter über dem Pass nieder. Blitze illuminierten in dichter Folge das Zimmer wie ein Fotostudio bei Passbildaufnahmen. Am Morgen ist davon nichts mehr zu spüren, ein blauer Himmel spannt sich von Ost nach West.
Erster Tagesordnungspunkt: Ich buche ich noch aus dem Bett heraus meine Heimfahrt; da nun ja nicht mehr allzu viel dazwischen kommen kann, steht der Zeitplan: Noch drei Wandertage bis Monaco, am Sonntag ein Tag an der Côte d‘Azur, Rückfahrt am Montag. Die Fahrkarte über fünf Bahnunternehmen in vier Ländern hinweg bei sechsmaligem Umsteigen lässt sich mit einem einzigen Klick über die App der Deutschen Bahn buchen, und bis auf den österreichischen Abschnitt werden mir direkt Online-Tickets ausgestellt – einfacher geht es nicht. Parallel dazu bucht Houston Mission Control mein Hotel in Menton, so dass nun die ganze restliche Tour fix ist.
Zum Frühstück gibt es ein ausgezeichnetes Croissant, knuspriges Baguette und ein kleines Pain au Chocolat, dazu jedoch wieder einmal ausschließlich abgepackte Töpfchenmarmelade à la Italienne. Die dazu erlebbare nicht vorhandene Freundlichkeit des Patrons und seiner Partnerin machen dann den Abschied leicht.
Am Col sind bereits die ersten Radsportler eingetroffen - hierzulande selbstredend alle ohne Elektrounterstützung - und erfrischen sich am Trinkwasserbrunnen, an dem auch ich meine Flaschen fülle.
Heute beginnt der zweieinhalbtägige Abstieg aus den Alpen auf Höhe Null, zunächst steht jedoch mit der Cime de la Calmette noch einmal ein richtiger Gipfel an. 
Von der Passhöhe wähle ich wieder den GR52A, in den ich Richtung Süden einbiege.
Durch tau- und regennasses Gras steige ich eine Ski- oder Rodelpiste hinauf, bis mich ein schattiger Waldweg aufnimmt und zum Gipfel leitet. Die Gipfelwiese ist von Bäumen umstellt, 200 Meter daneben ist der Blick jedoch völlig offen: Vor mir liegen noch einige Bergketten mit in der Entfernung abnehmender Höhe, dahinter ist die Horizontlinie zum ersten Mal, seit ich vom Wienerwald aus in Richtung Puszta schaute, absolut schnurgerade: Ich blicke auf das Meer. Unglaublich, da hinten geht es nicht mehr weiter.
Eine Panoramatafel gibt Auskunft über das, was man sieht - oder sehen könnte, jedoch ist der Blick auf Korsika wohl nur den klaren Herbsttagen vorbehalten. Mir reicht die Sicht heute: Ich bleibe einfach eine halbe Stunde stehen und kann doch nicht genug bekommen von diesem Panorama.
Weiter geht es auf einem schönen Waldweg, der immer wieder Weitsichten ermöglicht: Wandern mit Meerblick. Die Route ist bestens gepflegt und markiert; man merkt deutlich, dass man auf dem GR52A auf einem ‚Sentier de Grande Randonnée‘ unterwegs ist, der Eliteklasse unter den französischen Wanderwegen, und nicht auf einem dieser halbscharigen gelbmarkierten Steige, die gegebenenfalls einfach irgendwo enden. Die GR werden unterhalten von der Fédération française de la randonnée pédestre, dem Dachverband der 3.050 französischen Wandervereine und -organisationen. Und diese erledigt einen Top Job, sogar an Abzweigungen gibt es eine Markierung für den falschen Weg.
Durch Mischwald führt der Steig den Kamm entlang und später über den Sattel des Baisse de Patronel. Nach einigen Pilzesammlern, die mit Weidenkörben oder Jutetüten bewaffnet durch den Wald streifen, treffe ich hier auf eine deutsche Radfahrergruppe mit bayerischen Zungenschlag, die genauso begeistert aufs Meer schauen wie ich vorhin 200 Meter höher.
Weiter geht es hinunter durch den schattigen Wald, ohne jeden Abzweig wandere ich eine Dreiviertelstunde durch den Hang, bis der Wald dann oberhalb von Moulinet in offenes Terrain übergeht. Von einem Schritt auf den anderen wird die Landschaft mediterran. Ich weiß nicht genau woran es liegt, ob an der trockenen Vegetation, an der plötzlichen Hitze an diesem südexponierten Hang oder an der klaren spätsommerlichen Sonne, auf einmal bin ich im Süden angekommen, mich umgibt das Licht der Bilder von Paul Cézanne.
Moulinet passt stilecht in diese Stimmung: Ein hübsches Dorf mit ockerfarbenen Häusern entlang enger schattiger Gassen. Zwischendrin lockt die Terrasse des Gasthauses, aber für eine Einkehr alleine am Tisch sitzend bin ich heute trotz meiner guten Laune nicht recht in Stimmung.
Nach den Erfahrungen der letzten Tage eruiere ich diesmal rechtzeitig, wo der Campingplatz liegt und welche Wege zu ihm führen. Es zeigt sich, dass es ungeschickt wäre, über den GR52A weiter über einen Höhenzug hinweg bis nach Sospel zu laufen; der Campground liegt in einem Vorort, durch den die Straße Moulinet-Sospel hindurchführt. Da diese zudem durch die reizvolle Gorges du Piaon hindurchführt und - wie es scheint - kaum befahren ist, werde ich ihr folgen beziehungsweise an ihr entlanglaufen.
Bis zu der auf einem Felsvorsprung stehenden Kapelle Notre-Dame de la Ménour verläuft die tatsächlich sehr ruhige Straße weitgehend eben, dann öffnet sich der Blick in die Schlucht. Die Straßenführung ist spektakulär, sie führt am Rand der Felswand in mehreren zum Teil kunstvollen Serpentinen hinab, die mangels Abkürzungen alle auszugehen sind.
Gute zwei Stunden bin ich auf dieser spannenden Straße unterwegs, bis sich die umliegenden Felswände öffnen und das breite Talbecken von Sospel erreicht ist.
Etwa zwei Kilometer vor dem Stadtzentrum ist schließlich der Weg zum Campingplatz Le Mas Fleuri ausgeschildert, der einige Minuten von der Talstraße entfernt liegt.
Im Platzbüro muss ich mich bei der Anmeldung mal wieder ausweisen. Ich habe bis jetzt weder in Italien noch in Frankreich eine Regel erkannt, wann beim CheckIn die Personalien aufgenommen werden und wann nicht, der Patron im Le Ranch wollte von mir beispielsweise nichts sehen.
Zum Zelten könne ich mir einen Platz aussuchen, heißt es zum Abschluss der Begrüßungsprozedur. Das fällt mir leicht, und schnell ist das Zelt aufgebaut. Leider werde ich dabei von Mücken quasi überfallen, so dass ich schnell wieder Reißaus nehme. Die Terrasse des Restaurants scheint von den fliegenden Plagegeistern weniger betroffen zu sein, ein willkommener Anlass, direkt das Feierabendbier zu ordern. Dabei trete ich per Mail in Kontakt zu Martin Marktl aus Wien, der vor einigen Jahren ebenfalls von der Donau nach Monaco gewandert ist; er führt auf seiner Internetseite ‚vergissmi.net‘ eine Hall of Fame aller Alpenlängswanderer, für die ich mich nun so kurz vor meinem Tour- Ende auch bewerben kann.
Ich bleibe der Einfachheit halber gleich für das Abendessen sitzen und bestelle eine Pizza 'Mercantour'. Diese erweist sich als üppige Vertreterin ihrer Gattung und stillt auch den größten Hikerhunger.

Glück des Tages: Der Blick von der Cime de la Calmette: Nach fast zweitausend Kilometern ist kein Berg mehr am fernen Horizont, nur noch das Meer.

Gelaufen: 26,7 Kilometer
Bergauf: 294 Hm 
Bergab: 1.420 Hm  
Höchster Punkt: Cime de la Calmette (1.786m)
Übergänge: Col de Turini, Baisse de Patronel
Gipfel: Cime de la Calmette 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...