Mittwoch, 14. September 2022

99. Tag: 31. August 2022 Strepeis/ Bagni di Vinadio - Sant'Anna di Vinadio

Am späten Abend und während der Nacht herrschte Weltuntergangsstimmung: Es tobte ein starkes Gewitter, dessen heftiger Donner, durch die Berge ringsum verstärkt, an Artilleriefeuer erinnerte. Die auf meinem Balkon aufschlagenden Hagelkörner prallten so hoch zurück, dass sie von unten durch die Lamellen der Fensterläden ins Zimmer flogen.
Beim Frühstück fragt die Wirtin uns, ob wir dieses furchtbare Unwetter mitbekommen hätten. Wenn schon die gewittergewohnten Einheimischen das sagen, dann war es wohl wirklich stark.
Markus hat jedoch davon nichts mitbekommen, das nenne ich einen gesunden Schlaf.
Heute geht es nach Sant'Anna di Vinadio. Der Besuch dieses Sanctuarios, das vor allem das höchst gelegene Kloster Europas umfasst, war eines meiner großen Wunschziele auf meiner Tour. 
Markus und ich wählen für den Übergang den Weg über den Passo di Bravaria. Der Rother- Führer empfiehlt zwar den von der GTA abweichenden jedoch wohl schöneren Übergang am Passo Tesina, dafür müssten wir jedoch etwa eine Stunde auf dem gestrigen Weg wieder zurück und bis fast nach San Bernolfo hoch wandern.
Der Aufstieg durch das Vallone d'Insciauda hat es in sich: Ein Almsträßchen führt das schmale Tal hinauf, kompromisslos steil und ohne Serpentinen dem Geländerelief folgend. Der Aufstieg ist in dieser Steilheit ungeheuer anstrengend. 
Es dauert eine Stunde, bis die Straße in einem Almboden endet und wir endlich auf einem normalen Wanderweg weitersteigen dürfen. Zwar auch bergauf, aber viel angenehmer trassiert.
Auf einer ebenen Passage warten die Schweizer auf uns. Die beiden hatten in Bagni im Hotel geschlafen und sind von der steilen Straße genauso erschöpft wie wir.
Zum Glück ist es nicht mehr weit bis ganz hinauf zum Passo, der über den Almwiesen schon zu sehen ist. Oben angekommen liegt Sant'Anna schon zum Greifen nah, also machen wir direkt noch einmal Pause.
Eine Stunde über einen schönen Bergsteig, dann haben wir das Kloster erreicht.  An einem großen jedoch leeren Parkplatz liegen die unbewirtschafteten Unterkünfte für Pilger- und Wallfahrergruppen, davor findet eine Art improvisiertes Fest statt, ein Duo spielt mit Ziehharmonika und Klarinette, Leute tanzen dazu.
Auf einer Bierbank sitzend treffen wir Anna und Claudio wieder, die uns nach dem Pass überholt hatten.
Ich versuche, auf dem Fest ein paar Bier zu organisieren, aber es gibt nur Wein. Kurz darauf erscheint jedoch einer der Verantwortlichen mit einer Handvoll Moretti- Bierdosen, die er uns in die Hand drückt. Geld will er keines haben, auch nicht als Spende. Wir nehmen dankend an und genießen das Angekommen- Bier in unserer Runde.
Anschließend suchen wir unsere Unterkünfte. Nach ein wenig Herumlaufen finden wir heraus, dass wir nicht im Kloster schlafen, sondern im daneben stehenden Rifugio Casa Gioachino. 
Dort herrscht ein hotelartiger Betrieb mit kleiner Rezeption und Chipkarten für die Zimmer. Mein Zimmer ist überraschend funktionell: Die beiden Betten lassen sich als Etagenbetten ausklappen, das habe ich so auch noch nicht gesehen.
Anschließend besichtige ich die Klosterkirche. Sie ist bergauf angelegt, das heißt, der Eingang ist deutlich niedriger als der Altar, zu dem die Kirchenbänke in stetiger Steigung angeordnet sind.
An den Wänden hängen die für eine Wallfahrtskirche üblichen ergreifenden Votiv- und Dankesbilder. Es ist manchmal nicht zu glauben, was alles passieren und wie durch ein Wunder überlebt werden kann. In einem Bilderrahmen hängen zwei Fußball- Schals; hier wird dem Überleben der Brüsseler Heyselstadion- Katastrophe gedankt.
Ich treffe Markus auf der Terrasse des Wirtshauses wieder, hier ganz profan Bar genannt. Ein Bier und ein warmes Panini mit Salami und Gorgonzola, zum Nachtisch noch ein Eis - Hikerhunger.
Vor dem Abendessen gehen Markus und ich noch in den Abendgottesdienst, der aus einem gesungenen Liturgievortrag besteht, soweit wir das verstehen. Aber in der halbdunklen Kirche ist das sehr stimmungsvoll. Ich sitze in der Kirchenbank und bin tief bewegt: Jetzt bin ich tatsächlich schon heil bis nach Sant'Anna gekommen.
Das Abendessen ist eher schlicht und wird in einem großen allenfalls halbvollen Speisesaal serviert; die Bediensteten hier tragen Maske, das erste Mal seit Wien, dass ich das im Restaurant sehe.
Wir gehen nach dem Essen noch einmal kurz rüber in die Bar und stellen Überlegungen an für die nächsten Tage. Markus möchte gerne im Rifugio Questa übernachten; das bedeutet jedoch, egal wie wir es planen, einen Umweg von einem Tag.
Draußen geht derweil zum zweiten Mal heute Abend ein Schauer nieder, diesmal begleitet von Wetterleuchten und fernem Donner. Wieder einmal beneiden wir Anna und Claudio nicht, die wie stets in ihrem Zelt übernachten.
 
Glück des Tages: Ich bin tatsächlich in Sant'Anna di Vinadio.

Gelaufen: 12,1 Kilometer
Bergauf: 1.135 Hm 
Bergab:  427 Hm  
Höchster Punkt: Passo di Bravaria  (2.311m)
Übergänge: Passo di Bravaria
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...