Freitag, 16. September 2022

100. Tag: 01. September 2022 Sant'Anna di Vinadio - Rifugio Malinvern

Der hundertste Tag. Wobei mir das tatsächlich erst beim Frühstück bewusst wird, als Markus mich fragt, wann denn mein hundertster Tag sei und ich nachzähle. Ab heute bin ich dreistellig - schon irre, wie lange Wien nun schon hinter mir liegt.
Nach dem abendlichen Regenguss ist das Wetter heute wieder freundlich, einige weiße Wolken setzen einen schönen Kontrast auf den blauen Himmel.
Wir verlassen Sant‘Anna über ein Teersträßchen, das dem hier als sanfter Höhenrücken ausgeprägten Alpenhauptkamm entgegenzieht. Am kleinen Campground trocknen Anna und Claudio gerade ihr Zelt; ihrer guten Laune tut das keinen Abbruch. Sie sind noch länger als ich unterwegs - ging es bei ihnen ja schon im April in Triest los - und schlafen fast jede Nacht im Zelt; da war dies nicht der erste nächtliche Regenguss, und er war bestimmt milder als der in der Unwetternacht in Strepeis.
In einer Kurve, die einen Rückblick zum Kloster bietet, legen Markus und ich mit kleinen Steinen eine 100 auf die Straße; sie wird Bestandteil meines täglichen Guten Morgen-Videos.
Die Straße endet kurz vor dem idyllischen Lago di Colle S. Anna; hier teilt sich der Weg, die GTA geht auf steinigem Weg hinauf in Richtung zur Cima Moravecciera. Viele kleine Marienstatuen, zum Teil von den Wallfahrern in kunstvollen aus dem umliegenden Geröll gebauten Schreinen untergebracht, säumen hier den Aufstieg. Wo sind die ganzen Gläubigen nur hergekommen, auf dieser Route geht es doch nur von Frankreich her?
Eine halbe Stunde später stehe ich auf dem Kamm. Markus, Michael und Thomas sind kurz zuvor hier oben angekommen, zusammen schauen wir hinüber nach Frankreich. Wieder fällt der leicht braune Grundton auf, der sich über der Landschaft gelegt hat. Auch die Sonne scheint nicht mehr so intensiv zu strahlen wie noch vor wenigen Tagen. Der Herbst steht vor der Tür, ganz langsam beginnt der Abschied vom Bergsommer.
Wir wandern nun auf dem Alpenhauptkamm und entlang der Grenze, je nachdem wie der Slalom um die Grenzsteine ausfällt mal in Italien, mal in Frankreich.
In der weiten Ferne steht der Monte Viso, heute ohne Wolken; auch hier heißt es Abschied nehmen, ich sehe ihn wahrscheinlich zum letzten Mal, denn bald wechsle ich auf die westliche Alpenseite, von der er dann unsichtbar sein wird.
Auf der französischen Seite schauen wir dagegen auf das Skigebiet von Isola 2000. Vor diesem Ausblick hatten alle Wanderführer und -berichte gewarnt wegen des ökologischen Frevels der in Wald und Fels geschlagenen Pisten. Ich muss jedoch sagen, dass ich am Nassfeld oder beim Fernblick auf die Anlagen von Bormio auf meiner Tour schon Schlimmeres gesehen habe, von den Verheerungen am Stilfser Joch ganz zu schweigen.
Nach einer guten Stunde erreichen wir die Passhöhe des Colle della Lombarda. Zum ersten Mal begrüßt mich die Côte d‘Azur auf einem Schild.
Hier steht auf französischer Seite eine kleine Imbissbude und wartet auf die Autos, Wohnmobile und Motorräder, die die schmale Straße heraufgekurvt sind. Mir ist heute nach einem Mittagessen, und so kaufe ich mir dort einen Burger. Dieser wird vor Ort zubereitet und schmeckt sehr gut, vor allem mit Blick auf die umliegenden Berge.
Den Hauptaufstieg haben wir noch vor uns. Auf der italienischen Seite des Passes folgen wir der Straße für einen guten Kilometer.
Dann biegt die GTA in einen Militärweg ein, der wieder einmal hervorragend trassiert und mit gleichmäßiger Steigung gut zu gehen zum Passo d‘Origials hinaufführt. Fast 400 Höhenmeter sind so bis oben zu überwinden, zuletzt in einigen weitgeschwungenen Serpentinen.
Auf dem höchsten Punkt erwartet mich eine freudige Überraschung. Mit einem unterwegs gefundenen Strick hat Markus mir noch einmal eine 100 auf den Weg gelegt. Welche Ehre!
Während die anderen sich peu à peu an den Abstieg machen, bleibe ich wieder einmal noch eine ganze Weile sitzen und genieße die Stimmung am höchsten Punkt des Tages. Kein Wind regt sich, es ist völlig still.
Vor mir, nur noch durch einen Kamm getrennt, liegt teilweise von Wolken umspielt die Cima Argentera, unter mir einige schöne Bergseen, an denen ich noch vorbeikommen werde. Ich spüre in mir eine erste Wehmütigkeit. Eine gute Woche noch, dann ist es geschafft, und dann nehme auch ich Abschied. Ich freue mich sehr auf daheim, aber dann wird er zu Ende sein, mein Alpen-Längs-Thruhike, der lang gehegte Traum hat sich dann erfüllt.
Irgendwann reiße ich mich los und beginne den Abstieg. 800 Höhenmeter muss ich nun hinunter ins Vallone di Rio Freddo. Es geht an den beiden Seen vorbei, durch einen Almboden und dann steil durch hinab einen Lärchenwald. Fast zwei Stunden dauert es, bis ich endlich unten angekommen bin beim Rifugio Malinvern, das im Talgrund auf einem kleinen Hügel steht. 
Vor dem Gebäude mit seinem markanten gläsernen Treppenhaus haben es sich Markus, Michael und Thomas schon beim ersten Bier gemütlich gemacht. Ich hole mir drinnen auch ein Bier, kaufe für uns alle noch eine Jumbo-Packung San Carlo- Chips und lasse mich nieder. Bei uns sitzen Manuel und Antonia, die ebenfalls in Sant‘Anna übernachtet hatten; die beiden gehen im Rahmen eines persönlichen Sabbaticals die gesamte GTA, sind jedoch in deutlich schnellerem Tempo unterwegs wie wir.
Kurz vor Beginn der Dämmerung kommt noch ein einzelner Wanderer an, den ich wegen seines perfekten Italienisch zunächst für einen Einheimischen halte, der sich jedoch als Deutscher namens Urs aus der Nähe von Limburg entpuppt. Zwei Wochen GTA stehen auf seinem Programm, in denen er plant, vielleicht bis zum Meer zu kommen.
Heute ist der letzte Abend in der kleinen deutsch-schweizerischen 4er Wanderrunde, die sich im Rifugio Milgliorero gebildet hatte: Markus wird morgen seinen Extra-Tag einschieben und zum Rifugio Questa aufsteigen, und Michael und Thomas werden in Bangne di Vinadio im Grand Hotel und anschließend auf einer nahegelegenen Hütte übernachten. Aber mit Antonia, Manuel und Urs scheint sich bereits eine neue temporäre Wandergemeinschaft zu bilden. Auf einer Fernwanderung ist eben alles im Fluss.

Glück des Tages: Wandern auf dem Alpenhauptkamm, mit einem Bein in Italien, dem anderen in Frankreich.

Gelaufen: 16,3 Kilometer
Bergauf: 876 Hm 
Bergab: 1.044 Hm  
Höchster Punkt: Passo d‘Origials (2.601m)
Übergänge: Colle della Lombarda, Passo d‘Origials
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...