Freitag, 2. September 2022

94. Tag: 26. August 2022 Rifugio Campo Base - Chialvetta

Ich werde nicht vom Wecker wach sondern vom Donner. Zunächst irgendwo als fernes Rumpeln, kommt der Gewittersound immer näher, entlädt sich jedoch nicht direkt über uns.
Die Wettervorhersage für heute ist dann auch ziemlich durchwachsen: Zunächst soll es stabil bleiben, fraglich ist nur, wann es wieder zu regnen beginnt.
Mein erster Check heute gilt jedoch meinem Daumen. Keine Schmerzen, außer wenn ich feste drücke, volle Beweglichkeit - es scheint alles gut gegangen zu sein.
Ich bin um 10 nach sieben beim Frühstück. Anita und Roger sind schon fast fertig, denn sie haben die lange Tour nach Frankreich vor sich und dementsprechend keine Minute zu verschenken.
Ich starte um kurz nach acht, nachdem ich mich bei Agnese für den Eisbeutel bedankt habe.
In einer Viertelstunde bin ich unten in Chiappera, um das Motiv mit Kirchturm und dem dahinter aufragenden Rocca Provenzale einzufangen. Zwar scheint nicht wie erhofft die Sonne, jedoch herrschte vor einer Stunde noch Nebel im Tal, da wäre gar nichts gegangen.
Ein Stück geht es noch auf der heute früh fast verkehrlosen Talstraße entlang, dann zweigt ein schöner Weg in Richtung Mairaquelle ab. 
Diese ist unheimlich ergiebig, als würde ein kleiner Fluss direkt aus dem Berg kommen. Die Überlegung ist nicht gänzlich falsch: Ein Blick in den Bätzing- Führer zeigt, dass die Quelle der unterirdische Abfluss eines dreihundert Meter höher gelegenen Sees ist.
Hinter der Quelle beginnt der Aufstieg zum Colle Carbonet. Durch Fichten und Lärchen führt der Steig stetig bergan. Inzwischen ist auch die Sonne wieder herausgekommen.
Mit dem nachmittäglichen Gewitter in Aussicht bin ich schnell unterwegs und erreiche nach 2:40 Stunden die Passhöhe des Colle Ciarbonet; dabei nehme ich der Zeitvorgabe im Rother- Führer etwa 25 Minuten ab.
Es bietet sich eine hübsche Aussicht auf einige Almen und den Talschluss des Valle Chialvetta, der der Regionsbezeichnung "Dolomiten von Cuneo" alle Ehre macht.
Zwanzig Minuten über dem Pass liegt der Gipfel des Monte Estelletta. 
Da der Himmel noch keine Alarmsignale aussendet lasse ich mir diesen nicht entgehen und werde oben mit einem schönen Panorama belohnt. 
Einige Minuten nach mir kommt ein älteres italienisches Paar den Berg herauf; die beiden gehen sogar noch weiter in Richtung des noch etwas höheren Nachbarberges. Dies finde ich mit Blick auf die dynamische Wolkenentwicklung dann doch recht gewagt und trete lieber den Rückzug an.
Zurück am Pass treffe ich die drei Männer wieder, die ich gestern kurz vor dem Campo Base überholt hatte. Sie wollen auch noch hinauf und fragen mich zunächst auf Englisch, wie lange es bis oben sei. Ich antworte aus einem Gefühl heraus auf Deutsch, was mit einem dankbaren Blick quittiert wird. Da über den Bergen im Talschluss nun jedoch eine kräftige dunkle Wolke aufzieht, verabschiede ich mich recht flott und beginne den Abstieg ins Tal.
Wieder kann ich auf einer dieser perfekt ausgebauten ehemaligen Militärstraßen laufen, die in gleichmäßigem Gefälle mit einigen Kunstbauten auch steile Hänge erschließen. 
Allzu weit ausholende Serpentinen lassen sich abkürzen, und schon bald sind einige hundert Höhenmeter wieder abgebaut und ich stehe unten im Talgrund. Die dunkle Wolke hat sich im Hang gegenüber in einem kurzen Schauer ausgetobt, ich bin jedoch bis unten noch in der Sonne unterwegs.
Mein heutiges Ziel Chialvetta liegt noch ein gutes Stück talauswärts, leider 300 verschenkte Höhenmeter, müssen sie doch bei der nächsten Etappe wieder erklommen werden, die hier am Fuß der Militärstraße vorbeiläuft.
Im Weiler Viviere kann ich meinen Wasservorrat noch einmal auffüllen und auch kräftig trinken - Wasser war heute trotz der potenten Quelle der Maira Mangelware. Anschließend eile ich eine Mulatteria hinunter, denn der Himmel scheint wieder bedrohlicher zu werden. Im wie ausgestorben wirkenden Dorf Pratorotondo gäbe es eine primitive Selbstversorger- Unterkunft, aber das kommt für mich nur im Notfall infrage.
Mit den ersten Regentropfen leitet mich der Weg hinab nach Chialvetta.
Die Locanda di Chialvetta, in der ich vorgemerkt bin, liegt am unteren Dorfeingang, und ich kann sie beinahe noch trocken erreichen. Mein Zimmer ist gemütlich mit viel altem Holz, jedoch mangels eines großen Fensters sehr dunkel. Das ist ersteinmal egal, denn ich bin gut angekommen; draußen geht derweil der Wolkenbruch los mit einzelnen fernen Donnern.
Als es sich zwei Stunden später beruhigt hat mache ich noch einen kleinen Spaziergang durch das Dorf. Hier treffe ich vor der Kirche auf einen Wanderer namens Ludwig und komme mit ihm ins Gespräch. Er hat von mir gehört - "Ah, Du bist der Monaco- Wanderer"-, weil er wohl irgendwo Bernd kennengelernt hatte und sie über mich gesprochen hatten. 
Vor der Locanda sitzen die drei Männer vom Colle Carbonet und trocknen ihre Sachen. Es sind Axel, Axel und Klaus aus Hamburg. Ihren Gipfelerfolg haben sie beim Abstieg mit einer Regendusche bezahlen müssen. Sie sind nur vier Tage auf der GTA unterwegs und haben morgen ihre letzte Etappe. Es fängt nun wieder an zu regnen, und wir verabreden uns zum Abendessen.
Zwischenzeitlich habe ich mit Blick auf den Wetterbericht für morgen entschieden, doch keinen Pausentag einzulegen, sondern in eine Halbtags- Etappe zum Refugio Gardetta zu starten. Die Verkürzung meines Aufenthaltes ist zum Glück kein Problem.
Das Essen wird in einem sehr gemütlichen Innenraum mit groben Steinen an den Wänden und einer leicht  kuppelförmigen Decke gereicht, der noch völlig seinen ursprünglichen Charakter bewahrt hat. Das Essen selbst ist recht nobel und sehr lecker.
Die drei Hamburger sind ein lustiges und eingespieltes Team. Es macht großen Spaß, sich mit den Dreien zu unterhalten und rumzublödeln, und die Zeit des Abendessens vergeht wie im Flug. Zum ersten Mal überhaupt stellt mir jemand die Frage, warum mein Blog "Le Tour des Alps" heißt: Zunächst ist da natürlich die direkte Verbindung zur Tour de France. Jedoch ist der Name auch eine kleine Reminiszenz an eines meiner Lieblingsbücher, das auch von einer langen und abenteuerlichen Teise handelt, nämlich IN 80 TAGEN UM DIE WELT von Jules Verne; dieses Werk heißt im Original LE TOUR DU MONDE EN QUATRE-VINGTS JOURS.

Glück des Tages: Vor dem Unwetter angekommen zu sein.

Gelaufen: 18,7 Kilometer
Bergauf: 813 Hm 
Bergab: 935 Hm  
Höchster Punkt: Monte Estelletta (2.318m)
Übergänge: Maira (Fluss), Colle Ciarbonet
Gipfel: Monte Estelletta 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...