Freitag, 2. September 2022

93. Tag: 25. August 2022 Rifugio Melezé - Rifugio Campo Base

Man kann gegen das Rifugio Melezé vorbringen was man will - kein WLAN, Abendessen eher unterdurchschnittlich, sehr dürftiges Frühstücksangebot, lustlose Crew -  aber die Musik ist 1a: Zum Frühstück läuft das komplette Album RUMORS von FLEEDWOOD MAC.
Heute steht eine der ganz großen Etappen der GTA auf dem Programm:  Die Überschreitung ins Mairatal.
Zunächst führt mich diese Route weiter auf der Straße das hintere Valle di Berlino hinauf. Meine vor mir gestarteten bayerischen Mitübernachter habe ich rasch eingeholt.
Hinter dem letzten Parkplatz geht es dann einen schmalen Fahrweg bergauf, über dem als spektakuläre Kulisse der riesige Felskoloss der Rocca Senghi thront. Dies sieht von hier unten ziemlich fragil aus, und ich hoffe insgeheim, dass der Fels noch eine Stunde halten möge.
Hinter dem Alpboden der Grange Cruset wird die GTA gigantisch schön. Zunächst steigt der Weg einem schmalen Tobel folgend deutlich an. Hier wurde auch mit EU- Mitteln der Steig von grundauf frisch saniert; jedoch lassen bereits die ersten Spuren von Moto Cross- Motorrädern vermuten, wie lange das wohl halten wird.
Oberhalb des Tobels wird die Landschaft offen, weite steile Almwiesen prägen das Bild, überragt von hohen Bergen.
Eine gute Stunde arbeitet sich der Steig nach oben dem Talschluss entgegen, den er an der Alpe Grange dell'Autaret erreicht. Hier gabelt sich der Weg; rechts könnte man über den Col dell'Autaret den nahen Alpenhauptkamm überqueren und nach Frankreich gelangen.
Wir wenden uns jedoch nach links, wandern eine Dreiviertelstunde ein Schuttfeld empor und stehen schließlich am Colle Bellino.
Nach kurzer Pause gehen die Bayern weiter, sie wollen windgeschützt unterhalb des zugigen Passes pausieren. Mich zieht es dagegen auf den südlich des Colle aufragenden Monte Bellino. Auf diesen von hier unten mächtig aussehenden Berg führt eine schmale jedoch ausgeprägte Wegspur. Der Höhenunterschied ist überschaubar, und so stehe ich 20 Minuten später oben und kann mich endlich mal wieder vor einem Gipfelkreuz in Schale schmeißen. 
Der Monte Viso ist natürlich von Wolken umhüllt, die ganz gelegentlich und punktuell den Rocksaum heben und einen Blick auf den Giganten erlauben, jedoch ist er nie in Gänze zu sehen. Auch die im Süden aufragende Argentera ist mehr zu erahnen als tatsächlich zu erkennen. Aber ansonsten bietet sich hier oben ein ganz feines Panorama auf jede Menge mir bisher völlig unbekannter Berge.
Ich bleibe eine Dreiviertelstunde hier oben und genieße die Rundumschau weitgehend alleine. Für kurze Zeit kommt ein italienischer Mountainbiker dazu, mit dem ich mit Italienisch angehauchtem Französisch ins Gespräch komme. Er kennt Düsseldorf und Köln sehr gut, da er beruflich oft dort war; seine Tochter hat zudem in Köln studiert und anschließend im Museum Ludwig gearbeitet. Er bleibt nur 10 Minuten hier oben und steigt dann wieder zu seinem Mountainbike hinunter.
Später entert eine aus dem Mairatal heraufkommende Gruppe Italiener den Gipfel, wegen denen ich meinen Rucksack schultere; sie bleiben jedoch nur kurz am Gipfel,  so dass wir de facto alle zusammen zum Colle Bellino absteigen.
Der Weg von der Passhöhe hinunter ins oberste Mairatal ist nur mit dem Wort "Grandios" zu beschreiben. Es geht gefühlt stundenlang über wilde Almböden und durch wunderbar weite von Felstürmen umgebene Szenerien. Murmeltiere pfeifen, weiter und immer weiter steige ich hinab. 
Es gab seit Wien nur äußerst wenige Landschaftsbilder, die mich derartig beeindrucken wie dieser Abstieg, und ich wandere durch diese Kulisse wie im Rausch.
Etwa eine Stunde vor dem tief unten im Tal liegenden Rifugio Campo Base trifft der Steig dann zunächst auf eine Alm, eine große Herde Kühe und mündet schließlich in eine Schotterpiste.
Diese ist teilweise recht steil, aber auch dieser eher unattraktive Schlussabschnitt des Tages kann meine Laune nicht trüben. 
Fast ganz unten überhole ich drei GTA- Wanderer, die ich heute Nachmittag schon sehr lange in Entfernung vor mir hatte und die den Fahrweg nun sehr langsam heruntersteigen. 
Nach einem provisorischen Wohnmobil- Areal erreiche ich schließlich die Talstraße und das Rifugio, das auch ein Camping- Areal umfasst. Die Hütte ist eine in geschwungener Form dem Hangverlauf angepasste ehemalige Kaserne, der man ihre ursprüngliche Nutzung gleichwohl nicht mehr ansieht.
Beim CheckIn werde ich gefragt, ab ich Lager oder Zimmer möchte. Da sich auf den Bänken vor dem Haus eine große Gruppe älterer französischer Wanderer niedergelassen hat, die offensichtlich auch hier übernachten, entscheide ich mich gerne für ein Zimmer. Dieses enthält zwei Paar Etagenbetten, steht mir jedoch alleine zur Verfügung. So kann ich mich wieder ausbreiten und habe vor allem die Steckdose zur alleinigen Nutzung für das Aufladen der Akkus von Handy, GARMIN und Kamera.
Da ich recht früh dran bin, setze ich mich anschließend auf ein Feierabendbier und ein Stück Schokoladentorte vor die Hütte; so kann ich abwarten, bis die Franzosen in den Waschräumen fertig sind, bevor ich selber zum Duschen gehe.
Die Minuten unter der warmen Brause sind dann wie immer eine Wohltat. Leider ist es in dem Raum so glatt, dass ich beim Abtrocknen unglücklich ausrutsche und der Länge nach auf dem Boden aufpralle. Da liege ich nun auf den kalten Fliesen und prüfe den Körper von oben nach unten, ob irgendetwas Schaden genommen hat. Die wichtigen Körperteile scheinen alle noch intakt zu sein, nur am linken Daumen spüre ich einen heftigen Schmerz. Gebrochen scheint jedoch nichts zu sein.
Mit viel kaltem Wasser kühle ich den Daumen und die linke Hand ab. Der Schmerz lässt soweit nach, dass ich mich anziehen und mehr oder weniger problemlos zum Abendessen gehen kann.
Welch eine Ironie: Da laufe ich mehr als 1.500 Kilometer unfallfrei durch die Alpen, und verunglücke beim Duschen im Badezimmer. Man könnte fast lachen wenn es nicht so bitter weh täte.
Das Abendessen wird in einem länglichen Speisesaal gereicht. Der Raum ist voll mit den vorgenannten Franzosen, in der hintersten Reihe sind jedoch drei einzelne Teller gedeckt. Hier sitze ich zusammen mit Anita und Roger aus der Nähe von Zürich. Die beiden sind von Genf nach Nizza unterwegs, als Verlängerung eines in der Schweiz wohl recht populären Wanderwegs über den Jura.
Wie es manchmal passiert, entwickelt sich zwischen uns ein vertrautes Gespräch als würde man sich schon ewig kennen. Wir reden übers Wandern und über dies und das, und kommen dann auf Corona zu sprechen. Aus der Sicht der beiden sieht die Covid- entspannte Schweiz die deutsche Corona- Politik mit einer Mischung aus Horror und Komik, und sie fragen mich, warum die Deutschen das mit sich machen lassen und weshalb es keine Opposition oder kritische Medien gäbe. Ich kann das nur mit einem zustimmenden Schulterzucken beantworten. Die beiden sind jedenfalls heilfroh, dem deutlich entspannteren Schweizer Coronakurs zu unterliegen, der auf einen Winter ohne Einschränkungen zusteuert.
Schade, dass die beiden morgen eine ganz andere Wanderrichtung einschlagen. Aber diese Kurzfristigkeit und gegebenenfalls Einmaligkeit der zwischenmenschlichen Kontakte ist auch ein Element des Weitwanderns.
Wir tauschen uns aus bis wir noch als Einzige im Gastraum sitzen. Zum Abschluss des Abends bitte ich Roger, meinen Daumen in alle Richtungen zu bewegen. Diesen Test besteht der Daumen ohne Schwierigkeiten; es scheint, als wenn es wirklich bei einer Prellung geblieben wäre. Für die Nacht bekomme ich von Agnese, der Hüttenwirtin, sicherheitshalber noch einen Eisbeutel. 

Glück des Tages: Ein glimpflich abgelaufener Badezimmerunfall

Gelaufen: 19,0 Kilometer
Bergauf: 1.142 Hm 
Bergab: 1.293 Hm  
Höchster Punkt: Monte Bellino (2.937m)
Übergänge: Colle di Bellino
Gipfel: Monte Bellino 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...