Mittwoch, 31. August 2022

90. Tag: 22. August 2022 Rifugio Jervis - Rifugio Giacoletti

Der Wandertag beginnt mit einem vergleichsweise reichen Frühstücksbuffet. Auf der halbvollen Hütte sind viel mehr Franzosen als Italiener, mit einem "Bonjour" hat man eine deutlich höhere Trefferquote als mit dem üblichen "Buon Giorno". Die Grenze ist sehr nah, und es führen attraktive Wege von und nach Frankreich, die sich gut zu längeren Touren kombinieren lassen. Am Giro del Viso- Fernwanderweg wird das bestimmt noch ausgeprägter sein.
Die GTA gönnt sich ab dem Rifugio Jervis einen Umweg in ein Seitental; dies kostet einen knappen Wandertag. Diesen werde ich mir sparen und eine direkte Route nach Süden nehmen, was zudem den Vorteil hat, wieder in etwas hochalpinere Bereiche vorstoßen zu können. Dass ich dadurch die Quelle des Po nicht sehen werde, kann ich gut verschmerzen.
Zunächst durchwandere ich heute die große Ebene des Conca del Prà, an deren Rand das Rifugio Jervis steht. Sie ist ein ehemaliger See, der durch die Erosion der umliegenden Berge verlandet ist. Schon in prähistorischen Zeit wurden auf dieser etwa vier Quadratkilometer großen Fläche Almen betrieben. Am Ende des Zweiten Weltkriegs warfen hier die Alliierten Nachschub für die Partisanen ab, günstigere Bedingungen waren dafür in den Bergen wohl kaum zu finden.
Das ist zum Glück lange her, ich laufe friedlich zwischen vielen Kühen hindurch und vom Schatten ins Licht, da die Sonne gerade über die Berge klettert. 
Irgendwann beginnt dann aber der Aufstieg, immerhin habe ich heute zwei Übergänge und eine hoch liegende Hütte vor mir. 
Am Wegesrand dann unvermittelt ein Mahnmal: Hier ist 1957 ein Flugzeug der US NAVY abgestützt, den neun Opfern wird hier gedacht mit einem Denkmal, in das auch Trümmerteile integriert sind.
Etwas weiter oben passiere ich das Rifugio Granero, an dem sich der Weg verzweigt; die Franzosen gehen an dieser Stelle wohl rechts und über den Col Sellière wieder in die Heimat zurück, ich gehe links, dem Colle Manzol und dem Monte Viso entgegen. Zunächst ist das Hochtal dorthin sanft ansteigend, unter der Passhöhe bäumt sich dann jedoch ein steiler Schutthang auf, in den jede Menge Serpentinen eingearbeitet sind.
Oben an der Passhöhe das leider übliche Bild: Ich bin in der Sonne aufgestiegen, von der anderen Seite wabern die Wolken herauf, die Sicht ist in diese Richtung von oben bis unten gleich Null.
Nach einer kurzen Pause steige ich in den Nebel ab. Dieser Steig ist brutal steil und wegen vieler in den Weg integrierten Felsstufen und Schrofen recht anspruchsvoll. Konzentriertes Gehen ist erforderlich, aber irgendwann bin ich unfallfrei unten angelangt. Beim Blick zurück kann man gar nicht erkennen, wo ich in dieser vertikalen Wüste abgestiegen bin.
Kaum am Fuß des Passes angekommen beginnt der nächste Aufstieg. Der Colle d'Armoine ist noch ein wenig höher als der Colle Manzol, jedoch leichter erreichbar, da der Weg nur eine bequem zu gehende Steigung ohne komplexere Stellen aufweist. Sehen kann man die Passhöhe im Nebel kaum; kurz bevor ich oben bin reißt es jedoch zumindest so weit auf, dass ich erkennen kann, dass ich gleich oben bin.
Hier oben steht der Monte Viso in aller Pracht gleich gegenüber; leider für mich unsichtbar. Aber zumindest die Aufstiegsseite ist jetzt nebelfrei, und ich kann noch einmal zurückschauen.
Aber dann, völlig unvermittelt, kommt doch mein Monte Viso- Moment: Auf einmal öffnet sich für Sekunden ein wenig der Wolkenschleier, und es ist zumindest erahnbar, was für ein Riesenberg da auf der anderen Talseite steht. 
Im Abstieg bin ich schnell wieder unter den Wolken, bessere Sicht macht alles ein wenig angenehmer, und treffe bald auf einen breiteren Querweg. Auf diesem verläuft der 'Giro del Viso'. War ich bis jetzt heute weitgehend alleine unterwegs, bin ich auf einmal mitten unter vielen zumeist französischen Wanderern, die einzeln, meist aber in Gruppen diesen populären Rundweg um den Monte Viso bevölkern. 
Zum Rifugio Giacoletti geht zum Glück bald ein schmaler Pfad ab, so dass ich diese Autobahn wieder verlassen kann.
Unter schroffen Felswänden wandere ich nun hindurch. Es ist, vor allem nach dem kurzen Monte Viso- Blick eben, unglaublich, wie schroff es hier ist.
Der Blick auf den heutigen Schlussanstieg lässt mich ersteinmal durchschnaufen. Es geht auf brillant trassiertem Steig eine gefühlt beinahe senkrechte Schuttrinne hinauf.
Über 300 steile Höhenmeter sind noch zu erarbeiten bis ich oben bin.
Dann ist es aber geschafft und ich stehe vor dem kleinen Rifugio. 
Anmeldung und Ausgabe des beim finalen Kraftakt langersehnten Kaltgetränks erfolgt durch das als Rezeption fungierende Küchenfenster. Ich werde freundlich vom jungen Hüttenwirt begrüßt, von innen hört man Eric Clapton - sehr sympathisch. Überhaupt, da greife ich den Gedanken von gestern wieder auf, ist die Musik auf den Hütten hier echt klasse.
Einen halben Steinwurf vor der Hütte äst derweil in aller Ruhe ein Steinbock, allein das ist schon sehenswert.
Mein Schlafplatz in diesem sehr einfachen Rifugio liegt auf einer Art Galerie über dem eigentlichen Schlafraum; hier liegen die Matrazen nebeneinander dicht an dicht, jedoch ist nicht alles belegt und es bleibt genügend Freiraum rechts und links.
Beim Abendessen sitzen wir recht eng auf schmalen Bänken an langen Tischen, auf die später Schüsseln gestellt werden. Ein wenig Konfusion tritt anfangs auf, weil es eine Sitzordnung gibt, die jedoch erst kurz vor dem Essen bekannt gegeben wird. Das führt dazu, dass obwohl bereits alle saßen, sich nun in einer Art Reise nach Jerusalem- Spiel jeder neu sortieren muss.
Ich sitze als alles neu geordnet ist mit Guido aus Genua sowie Alexandra und Giacomo aus Pinerolo zusammen, die ihren perfekt erzogenen Hund unter dem Tisch haben; er ist so unauffällig, dass man ihn nur bemerkt wenn man ihn versehentlich mit den Füßen anstößt. Alle drei können ganz gut Englisch, so dass wir uns unterhalten können.
Draußen herrscht weiterhin Nebel, der als es dunkel wird eine triste Novemberstimmung ausstrahlt. Aber so ist es im Sommer am Monte Viso: Er ist eine Wolkenfabrik.

Glück des Tages: Der kurze Moment, als der Monte Viso zeigte, dass er noch da ist.

Gelaufen: 19,2 Kilometer
Bergauf: 1.607 Hm 
Bergab: 631 Hm  
Höchster Punkt: Rifugio Giacoletti (2.741)
Übergänge: Colle Manzol, Colle Armoine
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...