Um dreiviertel sechs geht mein Wecker. Ich hätte ihn jedoch gar nicht gebraucht, da kurz darauf unüberhörbar im Nachbarzimmer der Vibrationsalarm eines anderen Handys losgeht; unglaublich, wie hellhörig das hier ist.
Bis ich alles eingepackt und auch ein wenig gefrühstückt habe - vielen Dank noch einmal an das Restaurant- Personal für den Frühstücksbeutel - ist es 20 nach sechs und nun schon ausreichend hell.
Zum Glück hat es aufgehört zu regnen, es ist sogar erstaunlich klar. Vom Balkon ist zum ersten Mal seit ich hier bin ein Blick in die Tiefebene möglich.
Ich deponiere den Zimmerschlüssel an der leeren Rezeption und verabschiede mich noch einmal vom Restaurantchef, der gerade seinen Dienst beginnt; erstaunlich, welche Dienstzeiten die hier schieben. Dann beginne ich den wahrscheinlich längsten Tag meiner Tour.
Fast 100 Höhenmeter muss ich rauf bis zum oberen Ende der Festung. Hier überrasche ich einige Gemsen, die ersten im Anblick seit vielen Wochen, die mich lange beäugen bis sie sich ohne Hast empfehlen.
"Strada dei Cannoni" heißt der Weg hinab nach Fenestrelle, der sich als gut ausgebauter, jedoch über die Jahrzehnte von der Erosion gezeichnete Mulatteria erweist. Ich komme gut voran und erreiche um kurz nach acht Fenestrelle.
Als ich dann durch die hübschen Gassen von Laux laufe schlägt die Kirchturmuhr neun. Nun biege ich endlich auf die GTA ein; zweieinhalb Stunden und neun Kilometer bereits in den Beinen, noch sieben Stunden bis zum Ziel.
Der Weg hinauf zum Colle Albergian gestaltet sich zäh. Zunächst zieht sich eine Forststraße ziemlich in die Länge. Abwechslungsreicher wird es, als es auf einem Fußweg weitergeht, der in einigen Bögen durch lockeren Wald bis zur Alpe Bergerie de Laux hinaufführt. Im Rückblick ist jenseits des Tals sogar noch einmal die obere Hälfte der Festung und das Hotel PràCatinat zu sehen.
Oberhalb öffnen sich die Almwiesen, über denen man schon den Colle erkennen kann. So weit kann das nicht mehr sein, denke ich, als ich oben sogar Leute stehen sehe.
Doch weit gefehlt: Das Tal bis dort hinauf ist endlos. Kaum bin ich eine Geländestufe hinaufgewandert, führt der Steig schon auf die nächste zu. Hilfesuchend schaue ich auf den Höhenmesser, doch dieser zeigt unbeirrt Zahlen an, die noch weit unter der Sattelhöhe liegen. Außerdem wird es kontinuierlich windiger und kälter.
Erstaunlicherweise sind an diesem einsamen Pass mehr Menschen unterwegs als an manchem anderen GTA- Übergang: Ein Pärchen und davor zwei Frauen kommen mir entgegen, auf der anderen Seite des Baches laufen vier Wanderer mit großen Rucksäcken bergwärts, kurz vor dem Colle sitzt ein Vater mit seinem Sohn beim Brotzeitmachen, und mehrere Cross- Motorradfahrer dröhnen weiter unten über die Almpfade.
Im Windkanal des zwischen hohen Bergen eingebetteten Passes wandelt sich der Wind zum Sturm; ich versuche, mich mit meinen Buffs dagegen zu schützen.
Es herrscht hier an der Passhöhe eine eigenartige Atmosphäre, irgendwie gespenstisch. Fast so, als würde der Ort immer noch das Schicksal der armen Walserkinder ausstrahlen, die hier oben an Weihnachten 1440 auf der Flucht vor Verfolgern erfroren sein sollen.
Nichts wie weg hier. Schon wenige Schritte auf der anderen Seite hinab, und schon lässt der Wind deutlich nach. Auch die Sonne ist auf einmal wieder da.
Nach einer Viertelstunde erreiche ich die Ruinen der Alpini- Kaserne Ricovero Moremut. Hier gibt es eine Quelle, und im Windschatten der Gebäudetrümmer setze ich mich kurz in die Sonne und mache die einzige Pause des Tages.
Danach wird es sonnig und der Weg traumhaft. Zunächst wandere ich hinab in ein weltverlassenes Hochtal aus Gras und Fels, in dem Kühe grasen, zum Glück auf Entfernung, wegen der Hunde. Hier hätte man problemlos viele Szenen aus HERR DER RINGE drehen können. Zum ersten Mal habe ich das Gefühl, in den Südalpen unterwegs zu sein.
Eine halbe Stunde später eine ganz andere Szenerie: Ich komme aus dem Hochtal heraus und der Blick öffnet sich zur italienischen Tiefebene, keine höheren Berge verstellen den Blick an dieser Geländekante.
Über eine lange fast ebene Querung und einen anschließenden Abstieg in vielen Bögen steige ich die Geländestufe hinunter. Hier fällt die Cascata del Pis hinunter, doch das Volumen des Wasserfalls hat deutlich unter dem regenarmen Sommer gelitten.
Nun folge ich dem Bach und gelange eine Stunde später nach Balsiglia. Heute ein quasi verlassenes Dorf, ist Balsiglia ein Symbol der Waldenser: Zu einer befestigten Rückzugsstellung ausgebaut, leisteten hier im Winter des Jahres 1689 360 Mann erfolgreichen Widerstand gegen 4.000 Franzosen. Erst als diese nach der Schneeschmelze Kanonen herbeiführten, gaben die Waldenser auf; jedoch flüchteten sie im wahrsten Sinne des Wortes bei Nacht und Nebel über die Berge.
Heute endet hier die Teerstraße, der ich talwärts folge. Nach einigen Serpentinen und mehreren Dörfern erreiche ich schließlich Massello.
Mitten auf einem großen Parkplatz steht mutterseelenallein ein Geldautomat der Poste Italiane; völlig surreal, fast so als hätte ihn jemand vergessen, als Kunstobjekt abgestellt oder für eine Filmkulisse vorgesehen. Aber er funktioniert, das probiere ich natürlich aus.
Das Albergo La Foresteria di Massello liegt direkt daneben. Ich werde sehr freundlich von Lory, der Chefin, mit Namen begrüßt und erhalte ein total sympathisches Zimmer.
Das Abendessen ist ganz große Klasse, als Hauptgang gibt es feine Wildschwein- Medaillons.
Meine Bitte an den Seniorchef, für mich für morgen in Ghigo di Prali eine Unterkunft zu reservieren ist leider nicht erfolgreich. Er telefoniert mehrfach, aber alles ist voll. So schlägt er mir vor, zwei Nächte hier zu bleiben; er würde mich morgen Nachmittag in Ghigo abholen und am Sonntagmorgen wieder hinfahren. Auf dieses unglaublich nette Angebot gehe ich natürlich gerne ein, vor allem auch da ich nun zwei Nächte hier in diesem tollen Albergo bleiben kann.
Aber so einen XXL-Tag wie heute brauche ich nicht noch mal.
Glück des Tages: Der herrliche Abstieg nach dem eisigen Passübergang.
Gelaufen: 33,3 Kilometer
Bergauf: 1.672 Hm
Bergab: 2.202 Hm
Höchster Punkt: Colle Albergian (2.713 m)
Übergänge: Torrente Chisone (Fluss), Colle Albergian
Gipfel: Keine