Donnerstag, 25. August 2022

84. Tag: 16. August 2022 Alpe Toglie - PràCatinat

Eingepackt in meinen Schlafsack habe ich zum ersten Mal seit langem wieder richtig gut geschlafen. 
Nach dem Frühstück und dem Bezahlen - die wahrscheinlich preiswerteste Unterkunft zwischen Wien und Monaco -  starte ich etwa 10 Minuten nach meinen vier Kollegen. 
Der Lärchenwald von gestern setzt sich fort, durch den ein wunderbarer Weg aufwärts führt.
Als sich der Blick öffnet, liegt Susa unter mir und der Rocciamelone gegenüber.
Unter dem Höhenzug, der heute zu überwinden ist, liegt eine große Almfläche, und auch bis oben zum Colle dell' Orsiera scheinen die Grasflächen zu überwiegen. 
In den Almgebäuden hier am Weg ist eine Notunterkunft integriert, das Bivacco Orsiera. Ich öffne die Tür und schaue mir die kleine Anlage an. Alles macht einen ordentlichen Eindruck, und vor dem Haus gibt es einen Brunnen mit eiskaltem Wasser.
Der weitere Aufstieg ist nicht zu steil und daher ein sehr angenehmes Steigen. Caro und Theo habe ich irgendwann eingeholt, die beiden anderen sind kurz vor mir oben am Colle.
An der Passhöhe steht eine lange aufwändig geschichtete Steinmauer. Sie ist ein Relikt einer Schlacht von 1747, als die Franzosen unter Umgehung der Täler und ihrer Befestigungen vergeblich versuchten, über die Berge ins Piemont vorzustoßen. 
Wir nutzen die Mauer bei der Rast als Windschutz und Rückenlehne. Leider ist der Blick nach Süden wieder einmal stark bewölkt, vom Monte Viso ist nichts zu sehen. Dafür beobachten wir Bergsteiger am schroffen Monte Orsiera direkt neben uns. 
Die Bad Aiblinger brechen bald auf. Ich bleibe noch eine Weile sitzen und genieße die Sonne und die Stille, vor allem da es sich über dem Val Chisone langsam zuzieht. 
Auch der Abstieg verläuft über Almflächen, auf denen große weiße Kühe grasen; bewacht von einem Hund, der jedoch nur einmal kurz aufbellt und mich dann an seinen Rindern vorbeiziehen lässt. Bislang hatte ich wirklich Glück mit den berüchtigten piemontesischen Herdenhunden, das darf gerne so bleiben.
Kurz bevor ich die Baumgrenze erreiche, leuchten jenseits des Talschlusses  Gletscher in der dunstigen Ferne auf. Es ist die Barre des Ecrins, der südlichste Viertausender der Alpen. Bei diesem Anblick bleibe ich stehen und genieße den Moment; nach einigen Augenblicken ist die nächste Wolke über dem Tal, und der Ausblick ist so schnell vorbei wie er kam.
Nun geht es durch Wald abwärts. Hier steht schon Fenestrelle angeschrieben, wo ja mein Hotelzimmer auf mich wartet. Da es noch recht früh ist, folge ich jedoch der GTA in Richtung Usseaux, ohne auf die Karte oder die Adresse meines Hotels in Fenestrelle zu sehen.
Ich passiere die winzigen Dörfer Puy und Pequerel, beide nurmehr verlassene Siedlungen, in welche die Bewohner nur an Wochenenden oder zur Ferienzeit zurückkehren. 
Noch eine schöne Passage hoch über dem Tal, dann durch Wald und über einige Wiesen, und ich habe Usseaux erreicht, angeblich eines der sehenswertesten Dörfer Italiens. 
Es ist wirklich sehr schön hier, zumindest entlang der Straße, die ich heruntergehe, aber es sind auch recht viele Leute hier.
Ich möchte mich jedoch nicht allzu lange aufhalten, muss ich doch noch nach Fenestrelle hinunter.
Meine Hoffnung, dorthin als Anhalter mitgenommen zu werden, zerschlagen sich jedoch. Die Hauptstraße ist kurvenreich ohne Haltemöglichkeit, hier stoppt niemand. Also laufe ich die vier Kilometer am schmalen Rand der Straße, einen langen Tunnel umgehe ich auf der alten Trasse, dann liegt Fenestrelle vor mir mit seiner Riesenfestung, die sich den Hang hinaufzieht. iÜber Jahrhunderte hinweg erbaut, um die Franzosen am Taldurchmarsch zu hindern, ist die Festung die größte in Europa und nach der chinesischen Mauer das größte Verteidigungsbauwerk der Welt.
Am Ortsanfang von Fenestrelle habe ich endlich wieder Netz und kann mir voller Vorfreude auf ein gemütliches Zimmer ansehen, wo mein Hotel liegt. Als ich die Information habe, stehe ich kurz vor einem Nervenzusammenbruch: Das Hotel liegt in PràCatinat. Nicht nur, dass dieser Ortsteil mehr als 400 Höhenmeter über Fenestrelle liegt, ich bin auch vorhin beim Durchqueren des Dorfes Puy nahezu daran vorbeigelaufen, eine knappe halbe Stunde wäre es von dort aus gewesen.
OK, was tun? So ärgerlich und frustrierend es ist, dass ich nicht eher recherchiert hatte und nun um 18 Uhr an den langen Tag quasi noch eine kleine Bergtour anhängen darf, ich muss da irgendwie rauf. 
Ich setze mich in beziehungsweise vor eine Pizzeria; wer weiß, ob ich da oben noch etwas zu Essen bekomme, außerdem kann ich so besser planen wie ich jetzt vorgehe.
Die Pizza ist äußerst mäßig, aber am Ende steht mein Plan: Ich werde die schmale Straße dort hinauf gehen; das bedeutet zwar noch einen weiteren Umweg und zusätzlichen Höhenverlust, aber vielleicht habe ich ja Glück und es nimmt mich jemand mit.
Gesagt getan: Ich laufe durch Fenestrelle hindurch und folge weiter der fußwegfreien Hauptstraße bis zum Abzweig der Ausflugsstraße Colle dell' Assietta, an der das Hotel liegt.Erwartungsgemäß ist der Verkehr um halb acht äußerst dünn, vor allem kommen mir leider Autos entgegen.
Nach 150 von 550 Höhenmetern auf der schmalen Straße hält das dritte bergwärts fahrende Auto an: Valeria und Enrico nehmen mich mit, die beiden hatten mich schon gesehen, als sie heruntergefahren waren. Glück gehabt.
Auch mit dem Essen: Das Restaurant sei heute ausgebucht, heißt es beim Einchecken an der Rezeption. So mittelmäßig die Pizza war, Hunger wäre jetzt übler.
Noch ein Bier und ein paar Chips im Hotelfoyer, dann endet dieser lange Tag in einem weichen Bett.

Glück des Tages: Der anhaltende BMW von Valeria und Enrico.

Gelaufen:  28,1 Kilometer  
Bergauf: 1.506 Hm  
Bergab: 1.793 Hm   
Höchster Punkt:  Colle Orsiera  (2.595 m)
Übergänge:  Colle Orsiera 
Gipfel: Keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...