Mittwoch, 24. August 2022

82. Tag: 14. August 2022 Il Trucco - Susa

Meine Zimmerkollegen im Matrazenlager kamen weinselig und sich laut unterhaltend um zehn vor eins herein und richteten sich ersteinmal für die Nacht ein. So eine Rücksichtslosigkeit ist mir seit dem Waxeneckhaus nicht mehr passiert, und da geschah es zumindest mit vorheriger Ansage. Ich rege mich recht deutlich auf, aber das nützt ja nichts.
Und der Spuk ging noch weiter: Um halb fünf dudelt der Handywecker eines dieser Zimmernachbarn laut auf; vergessen auszumachen, dumm gelaufen.
Ich stehe um halb sieben auf und nehme nun auch keinerlei Rücksicht; es kann sogar sein, dass mir meine Wanderstöcke laut scheppernd zu Boden gefallen sind.
Kurios ist auch die Waschraum- Situation. Dieser einschließlich Dusche dient auch der Gastwirtschaft als einzige Toilette. So wurde gestern während meiner Dusche mehrfach türeklopfend Einlass begehrt; heute früh treffe ich dort auf eine Frau im Nachthemd, die ihren Hund mit auf die Toilette nimmt.
Das Frühstück ist für diese seltsame und - zumindest im Lager - grausige Unterkunft erstaunlich akzeptabel. Es gibt zwei Sorten Müsli, Obst sowie Saft soviel ich möchte.
Während ich frühstücke setzen sich zwei junge Italiener mit an den Tisch, die ein Zimmer erwischt hatten. Lorenzo und Domenico aus Mailand sind gestern von Susa aus aufgestiegen und gehen die GTA noch northbound an, also entgegen meiner südwärtigen Marschrichtung. Wir unterhalten uns prima auf Englisch über das Wandern, die GTA und was man so im Rucksack hat. Die beiden sind sehr interessiert an meiner Ausrüstungsplanung und Fragen des täglichen Ablaufs auf meiner langen Tour, zum Beispiel wie ich das mit dem Wäschewaschen handhabe.
Beim Bezahlen bitte ich die Wirtin in bewährter Weise meine nächste Unterkunft morgen auf der Alpe Toglie zu reservieren, was auch problemlos klappt. 
Dann breche ich auf. Die Sonne scheint aus einem milchigen Himmel. Im Osten scheint die Sonne über der Tiefebene, deutlich ist Turin zu sehen.
Über den Bergen im Westen hat es sich schon zugezogen, und es scheint dort auch zu regnen. Der Wetterbericht hatte für heute zwar vorhergesagt, dass es auf der Alpensüdseite trocken bleiben soll,  aber wenn ich auf den Himmel und die dunklen Wolken über den Bergen schaue denke ich nur: Hoffentlich komme ich ohne Regen unten in Susa an.
1.200 Höhenmeter muss ich nun absteigen. Die GTA führt mich zunächst noch über einige Stücke aussichtsreiche Schotterstraße. An einer umgebauten Alm mit schönem Brunnen zweigt sie dann aber ab auf eine mal mehr mal weniger steile Mulatteria, der sie bis unten folgt. Dabei geht es durchgängig durch Wald, der hier oben zunächst auch noch von den Spuren des Waldbrandes gezeichnet ist, die ich gestern auch schon gesehen habe. 
An manchen Passagen ist der Weg ziemlich zugewachsen, was mich erstaunt, laufen hier doch jedes Jahr recht viele Wanderer durch.
Der Himmel wird derweil immer dunkler, von der Sonne des Morgens ist nichts mehr zu sehen. Und als ich fast ganz unten die heute verbuschten Terrassen früherer Weide-, Feld- und Weinbaunutzung erreiche, fängt es tatsächlich an, leicht zu regnen. Ich ziehe die Pellerine über den Rucksack und zunächst auch die Regenjacke an, stopfe diese aber bald wieder weg, da es dafür einfach viel zu warm ist.
Im Dorf Marzano erreiche ich schließlich die asphaltierte Zivilisation und stelle mich ersteinmal an einer kleinen Kirche unter, weil der Nieselregen nun in einen Schauer übergegangen ist. Nach ein paar Minuten beruhigt sich der Niederschlag wieder; Regenschirm aufgespannt und weiter geht's. 
Die nächste Ortschaft Trinita steht beinahe im Schatten mächtiger Autobahnbrücken; der Verlauf der alpenüberquerenden Autobahn Turin- Lyon erinnert stark an die Brennerautobahn, ohne viel Federlesens und über viele Brücken wurde sie mitten durch das Tal trassiert.
Eine Kuriosität dann in Piestrastretta: Hier beginnt ein anderer Aufstiegsweg nach Il Trucco und weiter hinauf; der Rocciamelone steht auch auf dem Wegweiser und wird mit 8:30 Stunden angegeben. Achteinhalb Stunden für 3.000 Höhenmeter? Das schaffen höchstens die Gerlinde Kaltenbrunners oder Hans Kammerlanders dieser Welt. Wer hängt solche Phantasieschilder auf? In Düsseldorf hätten sie direkt 'Helau' darunter geschrieben. 
Ich schüttle den Kopf und gehe weiter, phasenweise nun sogar ohne Schirm. Kurz darauf unterquere ich die Autobahn und habe Susa erreicht.
Ich lasse das Zentrum der alten Römerstadt jedoch zunächst rechts liegen; es ist erst Mittag und so kann ich heute noch die erste Stunde des morgigen Wandertages hereinwandern. Bevor ich jedoch nach Meana di Susa aufbreche, suche ich mir via Google Maps einen Supermarkt, der am heutigen Sonntag geöffnet hat und werde fündig unter anderem bei einem COOP, der auf dem Weg liegt. Außerdem ist er vielleicht hinreichend groß, dass ich dort eine SD- Karte kaufen kann, hier muss ich bis Südfrankreich auf jeden Fall noch einmal nachrüsten.
Der Laden ist in der Tat groß und brechend voll. Ich kann dort meine gesamte Einkaufsliste abarbeiten, vor allem an Drogerieartikeln, jedoch gibt es leider keine Speicherkarten.
Mit gut gefüllter Einkaufstüte überquere ich die Dora Riparia und spaziere nach Meana di Susa, das ich nach einer Dreiviertelstunde auf einer kaum befahrene Straße erreiche.
In diesem Ort liegt der an der Mont Cenis- Strecke gelegene Bahnhof von Susa, während in der Stadt selbst ein kleiner Kopfbahnhof für die Züge nach und von Turin zu finden ist. Als Bahnfan habe ich natürlich die Mittagspause auf den Bahnsteig von Meana gelegt und hoffe auf ein paar interessante Züge. Ich werde trotz des Sonntags nicht enttäuscht: Zwei FrecciaRossa und sogar ein TGV nach Paris kommen in den anderthalb Pausenstunden vorbei.
Der Rückweg nach Susa gelingt entweder zu Fuß oder per Bahn, was wegen der zwei an unterschiedlichen Strecken gelegenen Bahnhöfe nur als Zickzack- Fahrt mit Umstieg in Bussoleno möglich ist. Klingt umständlich, ist jedoch als gute Umsteigeverbindung ausgelegt und mit 1,90 Euro unschlagbar günstig; der Ticketkauf ist jedoch mangels eines Automaten in Meana nur online möglich. In Italien hat wohl jeder ein Handy griffbereit für solche Situationen.
In Susa angekommen checke ich im Hotel Napoleon ein und beginne danach eine kleine Stadtbesichtigung.
Das strategisch günstig an zwei Alpenpässen gelegene Susa bestand schon vor der Zeit der Römer, die die Stadt dann ausbauten und prägten, zum Beispiel mit einem Augustus gewidmeten Triumphbogen, Amphitheater und Aquädukt, sie aber auch im Jahr 312 während eines Bürgerkrieges wieder weitgehend zerstörten. Natürlich sehe ich mir die römischen Bauten als erstes an, jedoch macht auch die ganze Innenstadt an sich einen sehr gemütlichen Eindruck.
Zum Abendessen setze ich mich vor eine Pizzeria, die auf einem schmalen Sträßchen ihre Tische aufgebaut hat.
Danach mache ich noch einen Abendspaziergang, denn angeleuchtet wirken die Bauten noch einmal ganz anders.
Derweil hat Houston Mission Control mein Hotel für die beiden Ruhetage gebucht. Dank der Ferragosto- Tage ist das ganze Tal von Usseaux und Fenestrelle ausgebucht. Aber zumindest ein freies Zimmer war zum Glück noch da.

Glück des Tages: Die römischen Bauten in Susa.

Gelaufen: 13,8 Kilometer
Bergauf: 127 Hm 
Bergab:  1.206 Hm  
Höchster Punkt: Il Trucco (1.706m)
Übergänge: Dora Riparia (Fluss)
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...