Um 6 Uhr gibt es Frühstück, unser Aufbruch ist für halb 7 vereinbart. Der Hüttenwirt hatte uns bereits gestern eingeschärft, dass wir zusammen aufsteigen sollen. Während ich Zwieback mit Nutella bestreiche wird es draußen langsam hell. Was für ein Tagesbeginn: Die Hütte ist über dem Wolkenmeer.
Pünktlich versammeln wir uns vor der Hütte. Der Hüttenwirt zeigt uns noch einmal den Verlauf des Steiges und macht dann ein Gruppenbild von uns.
Dann wandern wir los. Der Weg ist zunächst nicht allzu steil und gut begehbar. Schnell lassen wir die Hütte unter uns zurück. Vor der Hütte ging noch ein ordentlicher Wind, aber schon nach dem ersten Sattel ist davon nichts mehr zu spüren.
Bald kommen wir aus dem Schatten in die Sonne und der Blick öffnet sich: Die Aussicht von oben auf die Wolken und die Berge ist phantastisch.
Der Weg läuft nun teilweise recht ausgesetzt oben auf einem Grat. Gelegentlich muss man die Hände zu Hilfe nehmen, aber im großen und ganzen ist dies Gehgelände.
Drei Steilstufen sind insgesamt zu überwinden; hier ist ein wenig mehr Handeinsatz gefragt, aber kein echtes Klettern; an keiner Stelle fühle ich mich irgendwie unsicher.
Knapp zwei Stunden nach dem Start sind wir oben am höchsten Punkt des Grates angekommen, dem Col della Resta. Wir können nun über die Felskante hinüberschauen, und mit einem Mal ändert sich die Szenerie fundamental: Vor uns liegt der Rocciamelone- Gletscher, den wir queren müssen. Hier pfeift der Wind wieder enorm, wir ziehen uns deshalb eine Windstopper- Schicht drüber sowie Mütze und Handschuhe an.
Der Gletscher ist hier oben spaltenfrei und völlig ungefährlich. Das größte Risiko besteht darin, auf dem Eis auszurutschen; dies passiert Paolo zu Anfang gleich zweimal. Man hat dann jedoch ziemlich schnell raus, wo man hintreten muss, um einigermaßen Grip zu haben, und dann macht es richtig Spaß.
Um die steileren Stellen des Gletschers zu vermeiden, schlagen wir einen größeren Bogen nach Nordwesten. Dieser führt uns laut GPS über die Grenze; ich habe auf meiner Tour des Alpes nun auch Frankreich erreicht.
Der Gletscherrückgang ist natürlich auch hier deutlich zu spüren. Konnte man vor 20 Jahren noch auf dem Eis bis zum Einstieg zum Rocciamelone- Nordgrat laufen, sind heutzutage weite Flächen zu durchqueren, von denen sich der Gletscher zurück gezogen hat. Auf diesen steinigen Passagen ist die Orientierung sehr schwer, da es nur Steinmänner als Wegweiser gibt, die auf Entfernung kaum erkennbar sind; warum hier keine Farbmarkierungen aufgetragen wurden wie beim Aufstieg bis zum Gletscherrand ist mir ein Rätsel. Tatsächlich ist in meinen Augen die Wegfindung auf dem Stück zwischen Gletscher und Nordgrat die größte Schwierigkeit, die diese Aufstiegsroute aufweist.
Zum Grat hinauf müssen wir schließlich noch einen steilen Schotterhang erklimmen; hier ist noch einmal richtig Kondition und Biss gefragt, da die Steine unter jedem Tritt wegrutschen.
Dann bin ich oben, und es öffnet sich die Sicht: Vor mir der lange zum Gipfel führende Grat, etwa 200 Höhenmeter sind es noch bis zur gut sichtbaren Madonna am höchsten Punkt.
Die ganz große Schau ist jedoch der Blick nach Süden auf den Monte Viso, der alle Gipfel seiner Umgebung um 500 Meter und damit um mindestens drei Etagen überragt. Lange hielt man den Berg wegen dieser Dominanz für den höchsten der Alpen, 're di pietra', König aus Stein, nennen ihn viele Italiener.
Für mich dies ein ganz besonderer und auch ergreifender Moment:
Seit dem Start in Wien war die gefühlte Unendlichkeit und Unbegreiflichkeit der Länge meiner Tour so erdrückend und unfassbar, dass ich immer nur tageweise oder höchstens bis zum nächsten Zwischenziel denken konnte und wollte - Schneeberg, Klagenfurt, Karnischer Höhenweg, Dolomiten etc.
Der Monte Viso dagegen, als letzter 'richtig' hoher Berg ganz im Süden der Alpen, markiert nun für mich den Beginn des finalen Abschnittes meiner Alpenüberquerung. Mit seinem Erscheinen am Horizont wird das Ende der Tour - und damit auch die bisher gelaufene Distanz - auf einmal real und greifbar, und gleichzeitig auch die Gewissheit: Ich werde das schaffen. Lange hatte ich mich auf diesen Anblick gefreut, nun ist er da.
Natürlich kann man noch mehr hohe Berge sehen - Gran Paradiso, Barre des Ecrins, Monte Rosa, Grand Combin, dreiviertel verdeckt den Mont Blanc, um nur die wichtigsten Viertausender zu nennen - aber für mich hat hier und jetzt keiner die Symbolkraft des Monte Viso.
Der Rest des Aufstiegs ist nun reine Fleißarbeit: In dünner werdender Luft auf gutem Steig ohne jede technische Schwierigkeit den Grat hinauf der großen Madonna entgegen.
Ich genieße nun jeden Schritt, der mich dem Dach meiner Tour, ihrem mit 3.538m höchstem Punkt, entgegenbringt.
Jeder von uns Vieren läuft sein eigenes Tempo, oben warten wir jedoch aufeinander und freuen und beglückwünschen uns.
Verlief der Aufstieg in Einsamkeit und Ruhe, ist der Trubel am Gipfel fast ein Kulturschock. Der im Vergleich zu unserer Route einfachere Normalweg vom Rifugio Ca Asti ist traditionell gut frequentiert, immerhin geht es auf den zweit- oder dritthöchsten erwanderbaren Berg der Alpen überhaupt, und bei diesem Traumwetter haben sich natürlich viele aufgemacht hier herauf. Sogar die sonst meist verschlossene Kapelle am Gipfel, erbaut bereits 1798, mit ihren unzähligen Votivtafeln und Dankesbildern hat geöffnet. Der Rocciamelone ist der höchstgelegene Wallfahrtsort Europas, seit am 1. September 1358 Bonifacio Rotario d’Asti den Berg in Form einer Wallfahrt erstbestieg als Dank dafür, der Sklaverei bei den Türken entkommen zu sein. 1899 wurde die Madonna errichtet, heraufgetragen von Alpini- Soldaten und am Gipfel zusammengesetzt; Spenden von 130.000 Kindern aus ganz Italien finanzierten diese Aktion.
Meine drei Aufstiegskollegen machen sich bald wieder auf; sie gehen zurück zum Rifugio Tazetti und wollen den Gletscher vor dem Nachmittag überquert haben. Da ich den Normalweg hinuntergehe, der ohne Gletscherkontakt auskommt, kann ich mir etwas mehr Zeit nehmen und die Augenblicke hier oben ein wenig länger genießen.
Der Abstieg auf der Populärroute beginnt mit einigen ausgesetzten Stellen, die mit Seilen gesichert sind; der Einfachheit halber hat man dann gleich die nächsten 200 Höhenmeter auch noch mit Seilsicherungen versehen, um auch weniger trittsicheren Wallfahrern eine erfolgreiche Bergtour zu ermöglichen. Und hier hangeln sich dann auch Menschen bergauf und bergab, die eigentlich an einem Berg dieser Größe nichts, aber auch gar nichts zu suchen haben.
Ab dem Croce di Ferro, einem denkmalgeschmückten Zwischensattel im Grat auf 3.306m Höhe, wandelt sich der Steig in eine staubige Wanderautobahn, die in endlosen Kehren den Schotterhang bis zum Rifugio Ca Asti hinabführt. Runter ist dies schon nicht schön, rauf mit Sicherheit eine endlose Tortour.
Am nach dem Erstbesteiger benannten Rifugio mache ich eine Pause. Es gibt Hütten, die sind einem schon beim Betreten zuwider. Diese ist so eine: Durch eine nackte dunkle Halle betritt man den Gastraum, der einfach nur ungemütlich ist. Damit nicht genug: Der Tresen ist eine schießschartenartige Durchreiche, durch die mir ein schlechtgelaunter desinteressierter Mann meine georderte Coladose und auf meiner Frage nach einem Glas einen Plastikbecher reicht.
Ich bin sehr froh, hier nicht übernachten zu müssen und breche rasch wieder auf. Auch der weitere Abstieg ist nicht kurzweiliger als der vom Gipfel. Statt durch Schotter- und Felsflächen führen die endlos eintönigen Kehren nun durch Almwiesen.
Ziemlich weit unten würde die GTA dann in einen Bergwald hineinführen, doch dieser wurde das Opfer eines Waldbrandes; so stehen nur noch schwarze Baumleichen rechts und links des Weges, ein sehr seltsamer Anblick. Trotzdem sehe ich hier zum ersten Mal seit Wochen wieder Rehe, ein Jährling und ein weibliches Stück, die jedoch sehr schnell abspringen.
Das Posto Tapa in Il Trucco macht auf den ersten Blick nicht den allerbesten Eindruck. Leider verbessert sich dieser nicht, als ich den ein wenig vernachlässigt wirkenden Gastraum betrete, dessen Kapazitäten durch zwei Partyzelte vergrößert werden.
Ich habe zusätzlich das Pech, kein eigenes Zimmer mehr zu bekommen, sondern im Matratzenlager unterm Dach schlafen zu müssen. Dieses ist nur über eine steile und verwinkelte Außentreppe zu erreichen, die augenscheinlich noch nie eine behördliche Überprüfung der Notfallwege erlebt hat.
Drinnen erinnert der Schlafsaal irgendwie ein wenig an Talosio: Durchgelegene Betten, komisches Bettzeug, bei dessen Anblick ich um meinen Schlafsack froh bin, allerlei rumstehender Kram, der Tisch in der Mitte ist bereits von zwei hier ebenfalls schlafenden Gästen vollgepackt, zudem ist es dunkel und stickig. Schade, das hätte ich mir nach diesem langen Tag eindeutig anders gewünscht.
WLAN gibt es hier keins, und Netzabdeckung nur in homöopathischen Dosen. Das ist ärgerlich, da ich nicht nur die Übernachtung morgen in Susa organisieren muss, sondern auch die kommenden Tage, für die der Durchzug eines umfangreichen Schlechtwettergebietes vorhergesagt wird. Mit intensiver Hilfe von Houston Mission Control gelingt zumindest die Buchung eines Hotels für morgen.
Das Abendessen ist etwas besser als die Unterkunft, man merkt, dass die freundlichen Wirtsleute sich Mühe geben. Das reißt aber den Gesamteindruck nicht mehr raus.
Glück des Tages: Ich war auf dem Rocciamelone und habe den Monte Viso gesehen.
Gelaufen: 16,5 Kilometer
Bergauf: 987 Hm
Bergab: 1.896 Hm
Höchster Punkt: Rocciamelone (3.538m)
Übergänge: Col della Resta
Gipfel: Rocciamelone