Es war herrlich ruhig in unserem nur zur Hälfte belegten 6er Zimmer. Meine beiden Zimmerkollegen frühstücken schon um 6:30 Uhr, da sie früh zur Punta Croce Rossa aufbrechen.
Ich habe heute eine nicht ganz so große Tour vor mir und kann mir ein wenig Zeit lassen, denn in den nachmittäglichen Nebel komme ich so oder so. Also sitze erst um viertel nach sieben beim Frühstück, das durch ein großes Stück leckeren Almkäse stark aufgewertet wird.
Um kurz vor neun starte ich dann auch in meinen zweiten Tag auf der Alta Via Valli di Lanzo. Es ist wolkenlos, aber ziemlich windig. Zunächst geht es weglos über eine völlig ebene Wiesenfläche bis an den Talschluss des Valle di Viù. Oberhalb der Hütte packen die Franzosen von gestern gerade ihre Zelte zusammen, von den Steinböcken ist heute morgen nichts mehr zu sehen.
Im Blockwerk ist dann der Einstieg nicht ganz leicht zu finden, es gibt einfach zu viele Felsen und nirgendwo einen erkennbaren Weg. Dann sehe ich jedoch etwas weiter oben eine rot-weiße Markierung und steige einfach dort hinauf. Danach ist die Orientierung kein Problem mehr, sogar ein Steig lässt sich im Schotter zwischen den Felsblöcken gelegentlich erkennen.
Ein Speedbergsteiger überholt mich. Es hat jedoch den Anschein als wüsste er nicht genau wo er hinsteigt, denn er erkundigt sich witzigerweise im Vorbeigehen bei mir erst auf Italienisch und dann auf Englisch, wo der Weg überhaupt hingeht. Er wird der einzige Mensch bleiben, den ich heute bis zum Etappenziel sehe.
300 Höhenmeter weiter oben ist der Steilaufschwung geschafft, und dank der gewonnenen Höhe lohnt sich der Blick zurück: Mein Lieblingsberg, der Gran Paradiso, überragt einmal mehr das Panorama.
In gemächlicherer Steigung wandere ich nun durch nackte Fels- und Schotterflächen dem Colle Sule entgegen, der seitlich neben den kümmerlichen Resten der Eismasse des Ghiacciaio di Berta am tiefsten Punkt des Grates liegt.
Kurz vor dem höchsten Punkt drehe ich mich noch einmal um: In weiter Ferne ist das Massiv des Monte Rosa über den vorgelagerten Bergen erschienen, ohne Wolken, und dominant wie ein Achttausender, gigantisch. Ich muss erst zwei Wochen von ihm weglaufen, um ihn dann endlich doch noch zu Gesicht zu bekommen.
Am Colle Sule 'knacke' ich zum zweiten Mal nach der Rötlspitze die 3.000er- Marke und habe mit 3.076m den bislang höchsten Punkt der Tour erreicht. Doch dieser Rekord wird - wenn alles glatt läuft - nur von kurzer Dauer sein, denn morgen steht der stolze Rocciamelone auf dem Tourenplan; dessen eindrucksvolle Pyramidengestalt beherrscht bereits jetzt das Panorama des jenseits des Colle liegenden Tals. Von hier aus sieht er unglaublich hoch und beinahe unbesteigbar aus, jedoch ist er einer der höchsten für Wanderer erreichbaren Gipfel der Alpen. Gleich zwei Routen führen dort hinauf; ich werde eine Überschreitung machen und beide nutzen. Vorfreude, aber auch Respekt durchströmt mich beim Gedanken an die morgige Besteigung.
Ich bleibe nicht lange hier oben an der Passhöhe, nach kurzer Pause geht mein Weg nun steil hinunter ins Vallone Costan, in das bereits wieder der tägliche Nebel hineingedrückt wird.
Der Steig ist weiterhin gut markiert, trotzdem verpasse ich die Stelle, an der mein AVL von der über den Hauptkamm nach Frankreich führenden Tour della Bessanese abzweigt. Einziger Hinweis für mein Bauchgefühl, dass ich trotz der Markierungen falsch bin, ist ein Wegweiser, an dem sich kein Hinweis in Richtung Rifugio Tazetti findet. Also Handy raus und weiter mit GPS-Hilfe. Der Weg muss weiter unten über eine ebene Fläche führen, sagt die Elektronik. Also steige ich weglos etwa 50 Höhenmeter bis dorthin ab, irgendwo werde ich schon auf den richtigen Weg stoßen.
Der Sandboden hier unten ist wie zu Beton verhärtet, deswegen konnte ich von oben nichts erkennen, was auf einen Weg hindeuten würde. Trotzdem finde ich bald einzelne Fußabdrücke an den staubigen Stellen, nach etwa 200 Metern einen kleinen Steinmann und dann an einem Felsen am Rand auch wieder eine vertraute rot-weiße Markierung. Also bin ich wieder auf Kurs.
Die ebene Partie wird talwärts begrenzt durch einen felsigen Graben. Nachdem ich diesen durchstiegen habe stoße ich auf steiles Almgelände, über das mir nun aus der Tiefe der Nebel entgegenwabert.
Ein guter Weg und lückenlose Farbklekse leiten mich hinab durch die Wolkenschicht, bis ich darunter wieder klare Sicht habe.
An einem Abzweig beginnt ein offensichtlich neu angelegter Steig, mit dem es laut Karte vermieden wird, tiefer in das Vallone hinabwandern zu müssen. Statt dessen wandere ich nun auf halber Höhe bleibend um das Tal herum. Das freut mich natürlich sehr, unnötige Abstiege zu vermeiden ist genau mein Ding. Vielen Dank an die Planer des AVL an dieser Stelle.
Trotzdem leitet auch diese Route in einem Graben bis auf etwa 2.200 Meter hinab, so dass im Schlussabschnitt des Tages doch noch einmal 400 Höhenmeter aufzubauen sind.
Hier wird der Steig nun erst steil und dann auch etwas ausgesetzt. An einigen Stellen helfen Seile, die jedoch mehr dem psychischen als dem physischen Gleichgewicht helfen, zumal es jetzt wieder in die Wolkenzone geht.
Hier wird der Steig nun erst steil und dann auch etwas ausgesetzt. An einigen Stellen helfen Seile, die jedoch mehr dem psychischen als dem physischen Gleichgewicht helfen, zumal es jetzt wieder in die Wolkenzone geht.
Kurz vor der Hütte kreuzt noch eine Schafherde im Steilgras meinen Weg, nun ist zusätzliche Trittsicherheit gefordert, um nicht in deren Hinterlassenschaften zu treten.
Fast unvermittelt stehe ich schließlich vor den dunklen Umrissen des Rifugio Tazetti; es ist für heute geschafft, und um kurz vor vier bin ich sogar recht früh dran.
Die kleine Hütte ist beinahe leer, wir sind nur vier Übernachter; erstaunlich, da doch aktuell trotz des nachmittäglichen Standardnebels perfekte Bedingungen herrschen und Wochenende ist.
Ich regeneriere gerade im gemütlichen Gastraum bei einer Cola und einem Stück Kuchen, da kommt der Hüttenwirt von seiner heutigen Rocciamelone- Besteigung zurück. Weil kaum Gäste da sind, kann er sich viel Zeit nehmen, mir auf Englisch meine Fragen zum Aufstieg und zu den aktuellen Bedingungen zu beantworten; vor allem natürlich, wie es auf dem Gletscher aussieht. Er zeigt mir seine Fotos von heute und meint zusammenfassend: "Excellent conditions".
Am frühen Abend reißt der Nebel auf. Zusammen mit den drei anderen Übernachtungskollegen schaue ich dem Spektakel zu: Da steht er vor und vor allem über uns, der Rocciamelone, majestätisch, erhaben und wunderschön.
Zum Abendessen sitze ich mit den drei Turinern am Tisch: Domenico und sein Sohn Paolo sowie Gianni, der schon viermal dort oben war, einmal hier vom Terzetti aus, und der spürbar mehr als nur ein wenig Respekt hat vor dem Aufstieg. Am Nebentisch sitzt der Hüttenwirt mit seinen Eltern, und da nur er gut und Paolo leidlich Englisch sprechen können sitze ich trotz aller mir entgegengebrachten Freundlichkeit ein wenig einsam dazwischen. Aber uns alle eint die gespannte Erwartung: Morgen werden wir den Rocciamelone besteigen.
Glück des Tages: Die Blicke auf Gran Paradiso, Monte Rosa und auf den Rocciamelone.
Gelaufen: 12,7 Kilometer
Bergauf: 937 Hm
Bergab: 914 Hm
Höchster Punkt: Colle Sule (3.076m)
Übergänge: Colle Sule
Gipfel: keine