Heute möchte ich ausbrechen aus der GTA- Routine des 'Pass hoch - Pass runter' und wechsle für drei Tage auf den AVL, den Alta Via Valli di Lanzo; ein Höhenweg, der die Hochgebirgsregionen der Lanzio- Täler nahe des Alpenhauptkamms durchquert.
Hierfür muss ich in den Talschluss des Val di Ala gelangen; dieser liegt querab zu meiner Marschrichtung, jedoch kann ich den Umweg durch einige Minuten Busfahrt hinauf nach Pian della Mussa ein wenig abkürzen. Der einzige Bus am Vormittag fährt jedoch erst um 9:35 Uhr, für einen Wanderer- und Bergsteigerbus recht spät; aber wer weiß, welche wohlüberlegten Konzepte hinter dem Fahrplan stecken. Jedenfalls, um nicht zu sagen erwartungsgemäß, bin ich der einzige Fahrgast.
Vorher, ich hatte ja viel Zeit bis zur Abfahrt, habe ich mehr zufällig den lokalen Alimentari entdeckt, indem ich auf gut Glück einem leere Einkaufstüten tragenden älteren Ehepaar gefolgt bin. Neben dem Schokoladennachschub gab es für mich dort wieder ein Stück Pizza für die Mittagsbrotzeit.
Von der Endstation des Busses oben in Pian della Mussa folge ich ersteinmal der Straße bis zum Talschluss. Kurz vor dem Ende des Asphalts zweigt links eine Schotterpiste ab, die hinter einer Brücke zum Bergsteig wird; hier beginnt der Aufstieg zum Rifugio Gastaldi, meiner ersten Station heute.
In vielen Kehren wandere ich nun steil hinauf zum Pian dei Morti, einen breiten Grassattel mit wunderbarem Ausblick das Val di Ala hinunter. Leider sind die Wolken schon wieder ziemlich präsent.
Danach zieht der Weg gerade über Grashänge hinauf bis unter ein Felsband, das die Wegebauer mit einigen Sicherungen und Steighilfen begehbar gemacht haben.
Die Hütte kommt genau richtig für eine schnelle Cola und die Pizza- Brotzeit auf der Terrasse. Während ich esse kommt zum Glück die Sonne wieder heraus; so wird zumindest zum Teil sichtbar, in welchem Kessel riesiger Felswände die Hütte steht. Genau für solche Hochgebirgsszenerien habe ich ja die GTA für einige Tage verlassen. Da es noch vier Stunden sind bis zum Rifugio Cibrario breche ich jedoch bald wieder auf.
In einem Mix aus Nebel und Sonne geht es nun in den Grund des Felsenkessels hinunter bis zu einem wilden Bach, dessen trübes Wasser aus den höherliegenden Gletschern gespeist wird. Immer wieder reißen jetzt die Wolken auf zu Teilansichten eines gigantischen Hochgebirgs-Panoramas. Dies ist der Alpenhauptkamm, dahinter liegt Frankreich.
Von der Brücke über den Bach aus muss ich wieder hinauf, zum Collarin d'Arnas, zweiter Übergang des Tages. Der gut markierte Weg führt durch eine wilde mondartige Landschaft. Einen Gletscher soll es hier auch noch geben. Jedoch ist unter den Block- und Schotterfeldern nicht erkennbar, ob darunter Eis verborgen ist; einziger Hinweis sind zwei milchige Bergseen inmitten dieser Wüste. Die Wolken reißen derweil immer wieder auf, wie ein Vorhang, der sich öffnet und schließt.
Der letzte Aufschwung ist mit einigen Seilen entschärft, dann stehe ich oben am Steinmann, der die Passhöhe markiert.
Jenseits geht es nach einer Schokoladenpause genauso wild wieder hinab zum Lago della Rossa. Dieser Stausee leuchtet in der Sonne, leider sind die himmelhohen Wände, die ihn umgeben, in den Wolken allenfalls zu erahnen.
Eine steile Rinne muss ich noch hinunter, der technisch schwierigste Abschnitt auf der heutigen Etappe, dann stehe ich auf der Staumauer.
Hier bietet sich ein besonderes Schauspiel: Steinböcke kraxeln geschickt die fast senkrechten Steine der Mauer hinauf, wahrscheinlich um Mineralien aufzulecken. Unglaublich, welche Kletterfertigkeiten die Tiere haben. Ein Pärchen, das mir an der Staumauer entgegenkommt - die ersten Menschen seit zwei Stunden -, macht ersteinmal Pause, um sich dieses Schauspiel anzuschauen.
Ich muss jedoch weiter, denn zum Rifugio Cibrario gilt es, noch einen weiteren Übergang zu queren, den Colle Altare, mit 2.901m der höchste Punkt heute.
Der weiterhin gut gekennzeichnete Aufstieg ähnelt dem vorherigen: Ein wildes vegetationsarmes Tal hinauf, das die Gletscher erst vor nicht allzu langer Zeit preisgegeben haben, und dann mit ein wenig Zuhilfenahme der Hände eine rustikale Steilstufe hinauf. Oben dann blicke ich in den nächsten Talkessel, der jedoch bereits mit dem üblichen spätnachmittäglichen Nebel ausgefüllt ist.
Beim Abstieg treffe ich auf zwei kapitale Steinböcke, die mir ohne Hast aus dem Weg gehen und mich aus Entfernung beäugen; welch ein majestätischer Anblick.
Kurz vor der Hütte spricht mich eine entgegenkommende französische Bergsteigergruppe an, die sich offenbar verfranst hat: Ob das der Weg zum Col Altare und zum Lago della Rossa sei. Oui, antworte ich, mais ç'est long. Beim Weitergehen sehe ich von etwas weiter unten, dass sie zu dieser fortgeschrittenen Stunde nicht mehr weitergehen und nun Zelte aufbauen.
Um kurz nach sechs erreiche ich das Rifugio Cibrario, ein länglicher einstöckiger Bau, der ganz anders aussieht als die Hütten bisher.
Ich werde freundlich begrüßt, die Voranmeldung aus dem Posto Tappa in Balme hat offensichtlich funktioniert, und anschließend in ein mit zwei Leuten besetztes 6er Zimmer einquartiert.
Die sanitäre Einrichtung hier oben ist vergleichsweise rudimentär, Stehklos und zwei längliche Waschbecken, dazu eine kostenpflichtige Dusche, die ich jedoch heute auslasse.
Das Abendessen gibt es wie zuletzt überall um "Sette mezzo", also um halb acht. Kurz vor der Essenszeit werden alle Gäste aus dem Gastraum hinauskomplimentiert, wohl um die Tische zu decken.
Draußen ist es im dichten Nebel schon sehr dämmrig, und in diesem nachlassenden Licht kommen wieder Steinböcke zum Anblick. Phantastisch, ein echter Gänsehautmoment, den ich nur erlebe, weil wir aus dem behaglichen Gastraum gedrängt wurden.
Ich sitze dann mit meinen Zimmergenossen beim Essen zusammen, wir sind der Raum der Einzelgänger, wie wir feststellen. Barbara aus Turin, die morgen auf die Punta Croce Rossa steigen will, spricht ziemlich gut Englisch, so dass sich eine nette Unterhaltung ergibt.
Es sind auch einige Franzosen auf der Hütte, da eine beliebte Rundtour von Frankreich aus über die nahe Grenze kommend hier Station macht.
Das Essen ist diesmal nicht wirklich überragend, es gibt verschiedene Variationen von Polenta, davor zum Glück Pasta als ersten Gang.
Nach dem Kuchen als letztem Gang gehe ich noch einmal kurz vor die Tür; der Nebel hat sich gelichtet, und es herrscht nicht mehr diese triste Novemberstimmung.
Glück des Tages: Unterwegs zu sein in wilder Hochgebirgslandschaft.
Gelaufen: 17,9 Kilometer
Bergauf: 1.454 Hm
Bergab: 603 Hm
Höchster Punkt: Colle Altare (2.901m)
Übergänge: Pian dei Morti, Collarin d'Arnas, Colle Altare
Gipfel: keine