Da der Bus nach Ceresole Reale, wie ich es ja aus eigener Anschauung miterlebt habe, gerne auch ein wenig früher fährt als um 8 Uhr, bin ich um 7 Uhr beim Frühstück. Dieses ist ähnlich gewöhnungsbedürftig organisiert wie das Abendessen gestern. Den Kaffee holt man sich an der Theke, wo man sich einreiht in die Schlange derjenigen, die hier morgens einen schnellen Cappuccino oder ähnliches trinken. Joghurt und Saft gibt es an den großen Kühlschränken, die in der Ecke stehen, und alles was man sonst so braucht liegt auf einem großen Tisch in der Mitte des Raumes: Croissants, Kekse, Brot, Kuchen, abgepackte Müslibestandteile, Obst.
Ich bediene mich reichlich, nachdem ich das Müsli gegessen habe, vor allem beim Kuchen und den Croissants, wobei es diese entweder mit Schoko- oder süßer Marmeladenfüllung gibt.
Um halb acht kommt Bernd dazu, er hat ja heute nur die vergleichsweise nicht so lange Tour vor, die ich gestern gemacht hatte.
Beim Abschied bin ich mir sicher, dass wir uns noch einmal wieder sehen, wir haben ja noch etwa drei Wochen parallel vor uns bis ich die GTA Richtung Frankreichverlasse, da könnte das durchaus klappen.
Dann gehe ich hinüber zur Bushaltestelle. Heute kommt der Bus jedoch nicht fünf Minuten zu früh, sondern fünf zu spät. Mir ist es natürlich gleich. Direkt hinter meinem Bus kommt der zum Col de Nivolet; alle Wanderer und Bergsteiger wollen in den einsteigen, und der Fahrer meines Busses sagt an jeder Haltestelle zu den Wartenden, dass er nicht zum Col fährt; so ist unser Bus leer und der danach brechend voll.
In Ceresole Reale hole ich ersteinmal das Geldabheben nach, das in Ronco Canavese nicht geklappt hatte. Zwar nehmen hier, wie auch schon in Österreich, erstaunlich viele Übernachtungsstationen auch Kreditkarten, aber ein Grundbestand an Cash gibt Sicherheit.
Dann geht es endlich los. Heute steht der Übergang nach Pialpetta im Val Grande auf dem Programm. Pass des Tages ist der Colle della Crocetta, und da Pialpetta tiefer liegt als Ceresole, hat der Abstieg deutlich mehr Höhenmeter als der Aufstieg.
Zunächst geht die Wanderung am morgentlichen See entlang. Die Sonne lacht einmal mehr, traumhafte Ruhe umgibt mich, außer mir ist kaum jemand da. An und auf der Staumauer versuche ich, diese Stimmung festzuhalten.
Am südlichen Seeufer spaziere ich noch ein paar Minuten entlang, dann weist das GTA-Schild unmissverständlich nach links und bergauf.
Ohne Höhepunkte zieht der Steig nun im Wald nach oben und erreicht einen kleinen Wiesenboden. Hier kann ich im Kamm vor mir schon einmal raten, wo der Übergang liegt.
Dann wartet auf einer offenen Fläche der Höhepunkt des Tages auf mich: Hinter mir hat sich der Gran Paradiso über die vor ihm stehende Bergkette erhoben. Ein wahrlich paradiesischer Anblick, den ich mit einer ausgedehnten Schokli- Pause würdige. Der Gletscher, über den damals der Aufstiegsweg von Christian, Henning und mir verlief, ist immer noch vorhanden; jedoch ist zu vermuten, dass es heute mit Gletscherschwund und allen damit verbundenen Schwierigkeiten um einiges komplexer sein dürfte, dort hinaufzusteigen.
Unter dem Col sind noch einige Blockfelsen zu überwinden, durch die der Weg mit viel Geschick gelegt wurde, dann bin ich oben am kreuzgeschmückten Übergang.
Zum ersten Mal erlebe ich das klassische GTA- Passwetter: Aufgestiegen auf der nördlichen Seite in der Sonne, herrscht auf der anderen Seite Nebel, der alles verdeckt und verschluckt. Ein krasser Kontrast zwischen Licht und Dunst. Ich bin hier völlig alleine mit diesem Schauspiel; der einzige Mensch bis oben war einer dieser Speed- Bergsteiger, der mich noch im Wald überholt hatte und mir bereits längst wieder entgegen gekommen ist.
Viel länger als für eine Trink- und Fotopause bleibe ich nicht und beginne den Abstieg ins Nebulöse. Die ersten 200 Höhenmeter ist kaum etwas zu erkennen als der Pfad und die vorbildlichen Markierungen, alles was mehr als 30 oder 40 Meter rechts oder links vom Steig liegt entzieht sich dem Blick. Einen kleinen Bergsee kann ich erkennen, eine Felsstufe, die es hinabgeht, dann endlich durchstoße ich die Wolkenschicht und kann ins Tal hinabsehen, über dem die Sonne lacht.
1.600 Höhenmeter ziehen sich und wollen kein Ende nehmen, zumal der Steig recht unangenehm zu gehen ist. Erst nach einer großzügigen Alm wandelt er sich in einen Saumweg, der um einiges besser zu begehen ist.
Einziger echter Höhepunkt im Abstieg ist das Kirchlein von Rivotti, das sich höchstdekorativ auf einer Wiese präsentiert.
Ich laufe direkt an ihr vorbei, nehme noch den ein oder andere Saumweg hinunter und erreiche endlich Pialpetta. Hübsche Häuser stehen entlang des Weges, mich aber zieht es zur Dorfstraße mit ihrem Alimentari. Aprikosen und Schokolade wie stets, dazu eine Flasche Moretti und eine Tüte der leckeren italienischen Chips als Aperitiv.
Im Ristorante Setugrino wird das irgendwo im Dorf liegende Posto Tappa organisiert, also laufe ich als nächstes dorthin - nun Aprikosen heißhungrig in mich hineinstopfend. Nette Villen säumen die Straßen.
Der Patrone fragt: Posto Tappa oder Camere, keine Frage nach solch einem Tag. Das Zimmer ist klein, sauber und extrem rustikal; kein Problem, Hauptsache ich kann ausgiebig duschen. Dann setzte ich mich mit den Chips und dem Bier aufs Bett und Pflege meinen Blog.
Das Abendessen wird in einem nüchternen Speisesaal serviert. Ich bin der erste Gast, aber innerhalb von zwanzig Minuten ist der Raum gut gefüllt. Leider entspricht das spärliche GTA- Halbpensions- Abendessen nicht den leckeren Speisen, die die anderen Gäste als Abendbrot serviert bekomnen. Gulasch mit Polenta kann ich inzwischen nicht mehr sehen, leider war diese Kombination auch hier wieder dabei.
Während des Essens bricht draußen ein ordentliches Gewitter los. Zum Glück erst hier und jetzt.
Glück des Tages: Der herrliche Blick auf den Gran Paradiso.
Gelaufen: 17,6 Kilometer
Bergauf: 1.052 Hm
Bergab: 1.561 Hm
Höchster Punkt: Colle della Crocetta (2.641m)
Übergänge: Colle della Crocetta
Gipfel: keine