Das Frühstück im Albergo Locanda Aquila Bianca ist abgezählt, anders kann man es nicht beschreiben. Es gibt zwar Croissants, Joghurt und Saft, jedoch wird alles einzeln gebracht, ohne jedes Angebot, noch einmal nehmen zu können. Selbst beim Kaffee ist man knauserig: Nicht nur, dass keine Frage erfolgt, ob wir noch einen zweiten Kaffee wollen, es kommt einfach niemand mehr auch nur in die Nähe unseres Tisches. Für den Tarif, der hier für Halbpension aufgerufen wird, ist das eine ziemliche Frechheit. Einzige Lücke im System ist der Obstwagen, der unbewacht in einer Ecke steht; hier nehme ich mir reichlich Aprikosen, Pflaumen und Weintrauben.
Ich bin der Einzige von uns Vieren, der heute der GTA weiter nach Talosio folgen will. Die GTA- Führer haben für diese Etappe zunächst eine kurze Busfahrt nach Ronco Canavese vorgesehen; alternativ könnte man entweder die Talstraße bis nach Ronco abwandern oder eine neu veröffentlichte GTA- Route nehmen, die jedoch im Rother- Führer nur als "Alternative" im Kleingedruckten aufgeführt ist und von der im Bätzing noch abgeraten wird. Dieser einen Tag länger dauernden Route wird Bernd folgen.
Ich habe auf die eine Alternative keine Lust, und die andere ist mir eine Nummer zu heikel - also Bus. Da dieser jedoch erst um halb 10 fährt, stelle ich mich um Zeit zu sparen direkt nach dem Auschecken mit ausgestreckten Daumen am Ortsausgang an die Straße.
Zwanzig Minuten lang herrscht keinerlei Verkehr, dann hält das erste talwärts fahrende Auto an: Ein älteres Ehepaar ist auch auf dem Weg nach Ronco Canavese und nimmt mich mit. Die beiden sind mir sehr sympathisch, jedoch scheitert die Kommunikation mangels Italienisch- beziehungsweise Englisch- Kenntnissen bereits im Ansatz.
In Ronco Canavese angekommen stocke ich zunächst im örtlichen Alimentari meine Schokoladenvorräte auf und kaufe mir für die Mittagspause ein großzügiges Stück Pizza. Der einzige Bancomat des Ortes befindet sich nebenan in der Filiale der Poste Italiane, ist jedoch außer Betrieb. Man sollte auf der GTA die Kalkulation seines Bargeldbestandes nie zu eng mit dem nächsterreichbaren Geldautomaten verknüpfen, das kann ins Auge gehen.
Anschließend beginne ich die heutige Etappe. Wieder steht im Mittelpunkt ein hoher Übergang, Pass des Tages ist der Colle Crest; mit 2.045m von vergleichsweise niedriger Scheitelhöhe, jedoch werden bis oben angesichts des niedrig gelegenen Ausgangspunktes in Ronco Canavese heute auch wieder deutlich über 1.000 Höhenmeter zusammenkommen. Da das Wetter für den späten Nachmittag unsicher gemeldet ist, schlage ich eine ambitioniertere Gangart als üblich ein.
Zunächst folgt die Route einem längeren Asphaltsträßchen ohne jeglichen Verkehr hinein in ein steiles Seitental. Die Straße endet in einem kleinen Weiler, an dessen munter sprudelnden Brunnen ich eine intensive Trinkpause einlege.
Die GTA führt nun zügig bergauf durch Wald und später verbuschtes ehemaliges Almgelände, dadurch bin ich zunächst fast durchgängig im Schatten unterwegs.
Der Himmel über mir ist weiterhin sonnig- freundlich, an weiter entfernten Bergen bilden sich jedoch erste Quellwolken.
Erst weiter oben sind die Almen intakt und bewirtschaftet, Kühe, Pferde und Ziegen grasen auf den Wiesen und schauen mir interessiert beim Steigen zu. Die Almgebäude, an denen ich vorbeikomme, sind in erstaunlich gutem Zustand, das hat man entlang der GTA in den letzten zwei Wochen schon ganz anders gesehen.
Ich komme sehr gut voran, der Aufstieg macht richtig Spaß.
Knapp unterhalb des Grates verdunkelt sich plötzlich der Himmel, buchstäblich wie aus dem Nichts ist eine unschöne dicke Wolke aufgetaucht. Und wo diese herkam offenbart sich oben am Kamm: Das jenseitige Nachbartal und die darüber liegenden Berge sind von dichten dunkelgrauen Wolken verhüllt, die alles, nur nichts Gutes bedeuten.
Mein Weg führt nun ein wenig exponiert knapp unterhalb des Gipfelgrates der Cima Rosta bis zum Sattel des Colle Crest. Wie auf Kommando ist bald in der Ferne der erste Donner zu hören, und es fängt an zu regnen. Also Rucksackschutz überziehen, und als es eine Minute später beginnt wie aus einer Dusche zu gießen, kann ich den Poncho gar nicht schnell genug überwerfen.
Akustisch untermalt durch häufiger werdende, aber zum Glück immer noch entfernt klingende Donner, haste ich nun auf schmalem Steig durch den Steilhang auf die Einsattelung des Colle zu, denn erst dort geht es hinab und in Sicherheit.
Dicke Tropfen knallen wie im Dauerfeuer auf meine Kapuze, die Schuhe sind schon bald nass durch das über den Weg hinabströmende Wasser und das klitschnasse Gras rechts und links der schmalen Spur; bald sickert es spürbar in den Schuh- Innenraum; dieser Belastung hält kein Leder und kein Goretex stand.
Am Colle beginnt der ersehnte Abstieg, den ich im Laufschritt angehe. 200 Höhenmeter unter mir liegt die Alpe Rocco, dort muss ich hinkommen und wäre gegen alle Eventualitäten geschützt.
Kurve um Kurve jage ich förmlich hinab, zusammen mit dem Regenwasser, das die gleiche Route nimmt und mich wie durch einen kleinen Bach waten lässt. Oberhalb sind zwei weitere Wanderer zu sehen, die in gleichem Tempo den Weg hinuntereilen.
Kurve um Kurve jage ich förmlich hinab, zusammen mit dem Regenwasser, das die gleiche Route nimmt und mich wie durch einen kleinen Bach waten lässt. Oberhalb sind zwei weitere Wanderer zu sehen, die in gleichem Tempo den Weg hinuntereilen.
Schlussendlich habe ich Glück: Auf halbem Wege zur Alm bessern sich die Bedingungen, der Regen geht von Platz- in mäßigen Dauerregen über, und viel wichtiger: Die Donner um mich herum hören auf, Blitze habe ich gar keine gesehen, und nur noch in weiter Ferne ist gelegentlich ein Donnern zu hören. So kann ich an den verdreckten und kaum einladenden Almgebäuden vorbei und direkt hinab ins Tal RichtungTalosio laufen.
In Höhe der auf der anderen Talseite gelegenen schönen Anlage des Santuario di Prasconda hört dann der Regen auf, und ich kann den Poncho wieder ausziehen. Also alles gut gegangen, nur das Trocknen der nassen Schuhe einschließlich der Einlegesohlen bereitet mir Kopfzerbrechen.
Nach Talosio hinunter führt nun eine gut erhaltene Mulatteria. Im Ort angekommen ist noch nicht einmal die Straße nass.
Talosio ist das Gegenteil der bislang so heimeligen Bergdörfer entlang der GTA. Lieblos, fast abweisend, gepflegt und schmuddelig liegen direkt nebeneinander, das Auge findet nichts schön anzuschauendes. Aber immerhin leben hier noch vergleichsweise recht viele Menschen.
Den Schlüssel für das Posto Tappa, die Etappenunterkunft, gibt es in der Dorfkneipe "The Wolf", in der auch gegessen wird. Vor dieser sitzen zwei Mädchen, ich betrete den Schankraum durch einen aus dicken Stoffwürsten bestehenden Vorhang. Drinnen ist niemand, auch auf mehrfaches Rufen kommt keiner, ich hätte problemlos die Eistruhe leerräumen oder mich an den ausgelegten Chips gütlich tun können. Statt dessen bleibt mein Blick an einem Stapel alter Zeitungen hängen, von denen ich mir zwei dicke Exemplare für meine Schuhe einpacke. Nach mehreren Minuten ist von irgendwo dann doch ein Geräusch zu hören, und auf mein lautes "Buon giorno" kommt irgendwann tatsächlich jemand an die Bar. Nachdem ich mich vorgestellt und auf meine "Prenotazione" hingewiesen habe, werden die beiden Mädchen zwangsverpflichtet, mir den Weg zum in der alten Dorfschule untergebrachten Posto Tappa zu zeigen.
Von diesem habe ich schon viel gehört, und es war nichts Einladendes darunter. Und tatsächlich ist das Etablissement eine einzige Bruchbude: Verschlissene Etagenbetten in einem Schlafsaal im Erdgeschoss, an dem mich die Mädels gleich vorbei und in den ersten Stock lotsen. Hier findet sich in der wahrscheinlich unbenutzbaren Küche ein Bett, das halbwegs ok ausschaut; wieder einmal bin ich heilfroh, einen richtigen Schlafsack dabei zu haben, so minimiert sich der Kontakt zu dieser Umgebung. Im Gang türmt sich der Müll in der überquellenden Tonne, die anscheinend schon wochenlang nicht geleert wurde. Im Treppenhaus liegen Baumaterialien von längst vergessenen Arbeiten herum. Und der Sanitärbereich ist nur eine halbe Stufe von eklig entfernt, hier werde ich keinesfalls duschen und mich selbst nach dem Zähneputzen desinfizieren, das steht fest.
"Lost in Talosio", so hat es Alex "Bergreif" in seinem Wien-Nizza- Blog beschrieben; treffender kann man es nicht zusammenfassen.
Ich setze mich auf den Balkon, der einzige Bereich, der ein halbwegs annehmbares Ambiente hat, esse meine Pizza und stopfe danach meine Schuhe mit den mitgenommenen Zeitungen aus. Kaum bin ich fertig, kommen die beiden Mädchen wieder und haben diesmal zwei Frauen im Schlepptau: Eine Schweizerin und eine Mannheimerin, die die GTA in Abschnitten gehen und diesmal von Oropa nach Ceresole Reale unterwegs sind. Prima, so bin ich in diesem Ghetto zumindest nicht alleine.Um sieben gehen wir hinüber zum "The Wolf", und werden vom Abendessen überrascht. Es ist leckerer als manches, was es auf der GTA bislang gab, und ein ordentlicher Kontrast sowohl zum Posto Tappa als auch zum Umfeld dieser Dorfpinte.
Wieder in der alten Schule erneuere ich die Zeitungen in den Schuhen und kuschel mich in meinen schützenden Schlafsack, während draußen ein Schauer niedergeht.
Glück des Tages: Das Unwetter gut überstanden.
Gelaufen: 16,2 Kilometer
Bergauf: 1.185 Hm
Bergab: 907 Hm
Höchster Punkt: Colle Crest (2.045m)
Übergänge: Colle Crest
Gipfel: keine