Eigentlich wollte ich heute mit der Seilbahn von Oropa entschwinden. Da diese aber heuer wegen Reparaturen nicht fährt, verlängert sich der eh schon lange Tag um weitere zwei Wanderstunden. Erschwerend kommt hinzu, dass das offizielle Halbpensions- Frühstück hier im Sanctuario erst um halb neun beginnt, weswegen ich dieses erst gar nicht gebucht habe. Statt dessen stehe ich um 8 Uhr an der gerade öffnenden Rezeption zur Schlüsselabgabe und sitze um 10 nach 8 im ebenfalls gerade erst geöffneten Café bei einem Americano und den Keksen, die mir in der Auswahl am gehaltvollsten erschienen.
Um halb neun beginnt dann der Wandertag. Dieser soll mich nach Trovinasse zum Agriturismo Belvedere bringen; hier hatte ich gestern telefonisch und zum ersten Mal auf Italienisch eine Übernachtung reserviert.
Zunächst steige ich nun durch die Innenhöfe wieder zur Basilika hinauf. Dahinter befindet sich die in diesem Jahr unwichtige Gondelstation und der Beginn des zweistündigen Wanderweges hinauf zur Bergstation. Darüber hinaus stehen hier vier Stunden angeschrieben bis zum Rifugio Coda, das ich am Nachmittag erreichen will. Eine märchenhaft kurze und für den gemeinen Bergwanderer nicht zu schaffende Zeit; ein weiteres Beispiel, den Zeitangaben auf italienischen Wanderschildern nicht zu sehr zu vertrauen.
Erst über grobe Felsen im Wald, dann über eine grobschottrige Straße gewinne ich an Höhe. Oberhalb der Waldzone steige ich dann in praller Sonne eine gut erhaltene Mulatteria in mehreren Kehren den Berg hinauf. Oben angekommen herrscht Tristesse: Da die Gondel nicht fährt, steht auch der anschließende Korblift zur Capanna Renata still; das Rifugio Rosazza nebenan hat heute Ruhetag, und der große Kasten des Rifugio Savoya scheint schon länger geschlossen zu sein. Dies zusammen mit dem Fehlen von Leuten ergibt hier oben eine Art Endzeitstimmung. Dass einige hundert Meter höher die Ruine der Bergstation einer längst aufgelassenen weiteren Seilbahn steht rundet das Ensemble ab. Wer jedoch beim Anblick der Ruine entrüstet die Nase hebt und auf italienische Verhältnisse schimpft: So etwas gibt es auch an der Zugspitze.
Eine halbe Stunde später stehe ich an der Boccetta del Lago und kann von dieser Scharte aus erahnen, was in den nächsten Stunden auf mich zukommt. Den mächtigen Talkessel des Valle Elvo werde ich komplett auswandern. Viele Blockfelder sind durch- beziehungsweise zu überqueren, ein unangenehmes und sehr langwieriges Geschäft. Zum Rifugio Coda geht es schließlich ohne Blockwerk, aber gelegentlich ausgesetzt und gesichert, in mehreren Passagen hinauf. Frustrierend ist weniger die enorme Anstrengung als mehr das ewige rauf und runter des Weges, das kein Ende zu nehmen scheint.
Fünfeinhalb Stunden seit Oropa habe ich schließlich in den Beinen, als ich das Rifugio betrete, und hier auch nur Zeit für eine kurze Pause; es wird heute die Einzige bleiben. Ich versuche es meinem inzwischen etablierten Mix aus Französisch und Italienisch: "Buon giorno, Coca Cola c'est possible?" "Si" antwortet die Hüttenwirtin. "Due, per favore" schließe ich den Bestellprozess ab und bekomme zwei Dosen Cola, die ich gierig trinke.
Wieder vor der Hütte habe ich genügend Kraft, mich dem Panorama zu widmen: Es bietet sich ein phantastischer Ausblick auf die Tiefebene und die Stadt Ivrea, und hinter der Hütte sind Teile des Monte Rosa endlich mal ohne Wolken zu sehen, dafür ist das Matterhorn heute verhüllt.
Die GTA führt, zusammen mit dem an der Hütte wieder dazugestoßenen ALTA VIA VALLE D'AOSTA NR. 1, nun auf einem breiten Grat auf den Mont Bechit zu. Kurz bevor es zu ihm steil hinauf- und dann laut Literatur Klettersteig- ähnlich über ihn hinweggeht, zweigt nach links ein kleiner Bergpfad ab, der das ganze Massiv südlich umgeht. Dieser ist zum Glück nicht zugewachsen und lässt sich gut im Steilhang erkennen. Trittsicherheit, ein wenig Gefühl für die Wegführung und Schwindelfreiheit sind nötig, um diesen Weg zu gehen; aber das ist ja bei der Gipfelroute genauso. Die anderthalb Stunden auf diesem Steig machen mir sehr viel Spaß, ein echtes Highlight auf meiner bisherigen GTA. Den Schlusspunkt dieser Passage setzt schließlich eine kleine Alm knapp unterhalb des Colle della Lace, die fotogen über der Ebene steht.
Am Pass beginnt der lange Abstieg ins Aostatal, bei dem ich bis morgen Mittag fast 2.000 Höhenmeter abbaue. In weitem Bogen geht es zu einer Alm, hier biegt der ALTA VIA mit seiner perfekten Markierung nach Westen ab. Prompt gibt es Schwierigkeiten bei der Wegfindung, selbst meine Navi-App weiß keinen Rat. Da es aber irgendwo im unteren Bereich dieses Hochtals weitergehen muss, klettere ich einige Kuhpfade in der Wiese hinunter und stoße schließlich bei einer weiteren Alm wieder auf eine Markierung, die auf eine nun unübersehbare Almstraße weist. Dieser folge ich in flottem Schritt bergab, denn inzwischen ist es 17 Uhr durch; spätestens um 19 Uhr will ich angekommen sein, da ich nicht weiß, wann es Abendessen gibt.
Einen kurzen Augenblick der Überraschung empfinde ich, als später von der Almstraße ein Weg abgeht, der mit "Trovinasse Belvedere" in anderthalb Stunden ausgeschildert ist. Dann wäre ich zu spät, weswegen ich das Tempo anziehe. Der Weg ist bestens markiert, bietet hübsche Aussichten und würde richtig Spaß machen, wenn es nicht schon so spät wäre.
Aber entweder habe ich mich so sehr beeilt oder die Wegzeit war wieder völlig aus der Luft gegriffen: Um kurz nach halb sieben habe ich es geschafft.
Schon von außen macht der kleine Gasthof einen sympathischen knuffigen Eindruck. Er ist bekannt für seine herzliche Atmosphäre und das leckere Essen. Im Gastraum begrüßt mich Simona, die Chefin, sehr freundlich. Wegen dreier Absagen bin ich heute mal wieder der einzige Gast.
Das Zimmer könne ich mir aussuchen, meint sie, für das Abendessen schlägt sie mir "Sette mezzo", also halb acht, vor; perfekt, dann kann ich noch in Ruhe duschen.
Das phantastische Abendessen macht dann dem Ruf von Simona alle Ehre. Es gibt mit Köstlichkeiten üppig gefüllte Teller und Schüsseln, dazu ein Rotwein aus eigener Herstellung.
Die Aussicht tut ihr übriges zu diesem Abend hinzu und spendiert über dem Aostatal und den Bergen dahinter einen wunderschönen Sonnenuntergang.
Als ich schließlich den letzten Käse und Kuchen sowie den abschließenden Grappa vertilgt habe, kann ich mich kaum noch zu meinem Zimmer bewegen.
Glück des Tages: Das unvergleichliche Abendmenü im Belvedere.
Gelaufen: 23,7 Kilometer
Bergauf: 1.544 Hm
Bergab: 1.266 Hm
Höchster Punkt: Rifugio Coda (2.286m)
Übergänge: Boccetta del Lago, Colle della Lace
Gipfel: keine