Heute steht ein langer Tag bevor, also frühstücke ich schon um halb sieben. Jakob geht zur gleichen Zeit ohne Frühstück los, wir treffen uns hoffentlich heute Abend am Rifugio.
Für den Weg weiter ins Tal hinein gibt es zwei Wege. Während der Rother Wanderführer die Schotterstraße im Talgrund entlang leitet, empfiehlt der Bätzing- Führer einen schönen kleinen Höhenweg etwas oberhalb, der nicht wesentlich länger dauert. Diesen schlage ich ein und werde für einige zusätzliche Höhenmeter reich entlohnt. Es geht mit Ausblick über das Tal an einigen wunderschönen Walserhöfen vorbei und durch ein Dorf hindurch, und zudem liegt der Steig schon in der Sonne.
Die beiden GTA- Wanderführer unterscheiden sich grundsätzlich. Der Rother ist klein, übersichtlich und handlich, zudem ist die ganze GTA in einem Büchlein zusammengefasst. Diese Komprimierung geht zu Lasten des Inhalts, der über eine reine Wegbeschreibung kaum hinauskommt. Der Bätzing braucht zwei Bücher für die ganze GTA, hat dadurch aber deutlich mehr Raum zur Verfügung für die Wegbeschreibung sowie viele zusätzliche Erläuterungen und Hintergrundinformationen. Da man oft nur sieht was man weiß oder gelesen hat, kommt ein an seiner Umgebung und der durchwanderten Gegend interessierter GTA- Wanderer am Bätzing eigentlich kaum vorbei.
Beim Wasserfassen in einem der Walserdörfer kommen mir drei völlig verschwitzte Jugendliche mit großen Rucksäcken entgegen. Sie sind auf der Suche nach dem Weg zu einem Rifugio und haben sich offenbar ziemlich verfranst. Auf Englisch erkläre ich Ihnen, dass dieser Weg talauswärts nach Sant'Antonio führt. Leichte Konfusion, kurzes hektisches Beratschlagen, dann drehen die drei wieder um und sind bald nicht mehr zu sehen.
Kurz danach treiben zwei Hütehunde ein Dutzend Ziegen vor sich her zu einer Weide, ganz geschickt sammeln sie auch unterwegs versprengte Tiere wieder ein. Wer und ob überhaupt jemand bei diesem Schauspiel Regie führt kann ich nicht erkennen.
In Peccia taucht der kleine Steig in den Schatten ab und trifft wieder auf die Talstraße. Sofort wird es unangenehm kühl. Dieses höchstgelegene bewohnte Dorf im Tal besteht auch aus schmucken Walserhäusern und einer etwas oberhalb stehenden kleinen Kirche, aber hier im Schatten ist es schlicht zu kalt, um sich das genauer anzusehen.
An einer kleinen Steinbrücke, die angeblich Napoleons Truppen gebaut haben, komme ich wieder in die Sonne. Hier teilt sich der Weg. Die GTA geht weiter taleinwärts, nun auf ganz kleinem Weg.
Über mir fliegt viele Male ein Hubschrauber das Tal hinauf und kurz darauf wieder hinab, jedoch ohne Lasten; vielleicht ein größerer Personentransport?
Nun geht es ein langgestrecktes Tal hinauf, in dem nur einige Almhütten verstreut sind, ansonsten ist es außer ein paar Kühen völlig einsam. Die Tiere tragen GPS- Sender an den Riemen ihrer Glocken, um sie in dem riesigen Areal wiederzufinden. So etwas war mir vorher noch nicht aufgefallen.
Einmal etwas oberhalb einer Almruine, verliere ich den Weg. Ich setze mich auf einen Stein für eine Schokoladenpause, um zu beobachten, was eine italienische Familie macht, die hinter mir das Tal hinaufkommt. Sie sind zunächst auch unsicher, finden aber dann den Pfad wieder, den ich jetzt auch erkennen kann; ok, da geht es lang.
Nach einer Geländestufe erreiche ich die an einem kleinen See gelegene Alpe Maccagno. Hier ist zwischen den vom Almbetrieb etwas schmuddeligen Hütten richtig was los, ein Fest mit Empfang und Reden ist im Gange, Frauen zum Teil mit Tracht, Männer in Uniform mit Musikinstrumenten, und der Hubschrauber parkt auch hier. Was gefeiert wird erschließt sich mir nicht.
Ich fülle meine Flaschen an einer kleinen Quelle, dann lasse ich die Feier hinter mir.
Der Talschluss ist bald erreicht mit steilen Hängen ringsum; über einen muss ich rüber. Es gibt hier hinten sogar noch einen schönen Bergsee, den Lago Nero, an den die GTA jedoch nicht ganz heranführt.
Unterhalb des Passes, dem Colle Maccagno, wandelt sich der Steig in eine leichte Kraxelei über große Blöcke, nicht schwierig, sondern eher spannend.
Als ich mich umdrehe stockt mir kurz der Atem: Der vor mir stehende Monte Rosa versteckt sich weiterhin in dichten Wolken, aber links davon steht unverkennbar und wolkenfrei das Matterhorn. Wieder eine optische Wegmarke auf meiner Tour des Alpes.
Am Passo Maccagno angekommen freue ich mich wie immer auf den Blick dahinter: Zackige Berge aus dunklem Gestein, und unter mir eine ebene Wiesenfläche in der Größe mehrerer Fußballfelder, über die der gut erkennbare Weg weiterführt.
Neben dem Matterhorn ragt nun auch einer der Gipfel des Breithorns über die dazwischen liegenden Berge. Der Monte Rosa ist weiterhin in Wolken, nur der Fuß des Liskamms ist zu erahnen.
Laut der Peakfinder-App könnte man von hier oben sogar weit im Süden den Monte Viso sehen; an einen solchen Fernblick ist am Nachmittag eines Hochsommertages natürlich nicht zu denken; ich werde noch mehr als drei Wochen brauchen, um in seine Nähe zu gelangen.
Ich mache eine knappe Stunde Mittagspause hier oben. Zwei Leute kommen in dieser Zeit vorbei: Ein immens schneller Bergläufer und ein Wanderer, der eine halbvolle Rotweinflasche zwischen den Felden hervorhebt, in den Rucksack packt und gleich wieder umkehrt; er lächelt verschmitzt und sagt dazu noch etwas scherzhaftes auf Italienisch, das ich aber nicht deuten kann.
Der Abstieg vom Pass geht durch eine grasbewachsene Felswand und ist ein wenig knifflig. Trittsicherheit sei an manchen Stellen erforderlich, schreiben beide Wanderführer. Aufpassen muss man schon, wo man hintritt, aber mit ein wenig Konzentration macht es sogar Spaß. Nach 100 Höhenmetern bin ich unten, und treffe an einer nahen Wegekreuzung auf den ALTA VIA VALLE D’AOSTA 1. Für ein kurzes Stück bin ich nun in der autonomen Provinz Aosta unterwegs. Die ALTA VIA, und damit auch mein Weg, ist ab hier in jeder Hinsicht perfekt: Gelbe Markierungen und Pfeile in Hülle und Fülle weisen den Weg zielsicher auch an unübersichtlichen Stellen. Und jenseits des zweiten Passes, des eher eine Geländekante bildenden Colle Lazoney, sind auf langen Strecken hunderte von Felsplatten so kunstvoll zwischen die schroffen Felsblöcke gelegt oder geschichtet, dass sich ein richtiger Weg ohne Kletterei ergibt. Das muss ein gigantischer Aufwand gewesen sein, diese von groben Felsen geprägten Partien gangbar gemacht zu haben. Auf dieser Strecke ergibt sich auch ein Blick tief hinab ins Valle Gressoney.
Der ALTA VIA 1 verlässt die GTA unterhalb des Colle de la Malagna Grande, zu dem die GTA auf einem steilen Pfad hinaufführt.
Oben angekommen packt mich einen Augenblick der Schreck: Wo sind die Berge hin? Vor mir erstreckt sich am Ende eines kurzen Tals die Weite der italienischen Tiefebene. Damit habe ich nicht überhaupt nicht gerechnet. Das Gehirn und auch der Gleichgewichtssinn brauchen einen kurzen Moment, um das Gesehene in richtige Relationen zu setzen. Dann ist der Ausblick natürlich faszinierend: Flaches Land ohne jede Erhebung voraus, bis es am fernen Horizont von der etwas dunkleren Gebirgslinie des Apenin begrenzt wird.
Auch in der anderen Richtung hat sich das Panorama hier oben erweitert. Im Westen ist schemenhaft zwischen Wolken der Mont Blanc zu erkennen, und jenseits des Aostatals wolkenumspielt der Gran Paradiso, einziger gänzlich in Italien stehender Viertausender. Zu diesem Berg habe ich ein besonderes Verhältnis, war er doch 1990 mein erster Gipfel in der 4er-Liga.
Oberhalb des Passes ist ein "lohnender und aussichtsreicher" Gipfel mit einem Steig erschlossen, die Punta Tre Vescovi. Da es erst 16 Uhr ist und die Hütte unweit unter mir erkennbar ist, gehe ich natürlich hinauf. Der Steig ist stellenweise etwas schwieriger und nicht nur reines Gehgelände, aber ich komme auch mit dem großen Rucksack auf dem Rücken gut hinauf. Oben markiert eine Steinplatte den Gipfel. Die Aussicht ist natürlich deutlich erweitert, von allem Richtung Monte Blanc, wo nun auch viele andere Gipfel des Massivs zu erkennen sind, unverkennbar vor allem die dunkle Masse der Grandes Jorasses.
Der eigentlich auch erhoffte Blick auf den Monte Rosa, der endlich einmal kaum mit Wolken umgeben ist, wird von einem anderen Berg weitgehend verstellt. Das soll einfach nicht sein mit uns...
Der Abstieg zurück zum Pass ist dann unkomplizierter als beim Aufstieg befürchtet, und nach weiteren 20 Minuten habe ich das Rifugio Rivetti erreicht, das auf einer Felsnase hoch über dem Talschluss steht.
Wieder werde ich mit "Christian?" begrüßt das schafft direkt eine persönliche Atmosphäre. Die Hütte ist kaum halbvoll, wie sich zeigt, und ich bekomme wieder ein 4er Zimmer für mich allein.
Am Aussichtspunkt hinter der Hütte treffe ich dann Jakob wieder, der schon eine Weile da ist. Er verpflegt sich selbst und will morgen noch vor dem Frühstück starten, um noch weiter als mein morgiges Ziel Oropa zu kommen.
Zum Abendessen ist an einem langen Tisch gedeckt, an der alle Gäste und die Hüttencrew gemeinsam sitzen, und jeder nimmt sich sein Essen aus Schüsseln. Da bis auf den Salat alles noch nachgebracht wird, ist genug da, um auch alle hungrigen Bergsteiger satt zu bekommen. Außer mir ist nur noch ein Ehepaar deutschsprachig, aber die beiden sind zum einen sehr schweigsam, auch unter sich, und zum anderen mir nicht sonderlich sympathisch. So ist das Essen eine schweigsam Angelegenheit, während die Italiener sich munter unterhalten.
Nach dem Essen verabschiedet sich Jakob von mir, der ob seines frühen Aufbruchs zeitig zu Bett geht.
Ich warte noch, bis es dunkel wird. Der Hüttenwirt gibt mir derweil einen würzigen Schnaps aus, den er Genef nennt.
Der nächtliche Ausblick auf die endlosen Lichter der Ebene ist gigantisch; würdiger Abschluss eines herrlichen Tages.
Glück des Tages: Dass sich dieser Tag so elementar von der normalen GTA-Topographie 'Pass rauf und runter' unterschied und echten Höhenweg- Charakter hatte.
Gelaufen: 20,3 Kilometer
Bergauf: 1.509 Hm
Bergab: 752 Hm
Höchster Punkt: Punta Tre Vescovi (2.501m)
Übergänge: Passo Maccagno, Colle Lazoney, Colle de la Malagna Grande
Gipfel: Punta Tre Vescovi