Das Rifugio Sant' Jorio ähnelt stark dem Rifugio Viola, der gleiche Eingangsbereich und Treppenaufgang, der Schlafsaal sehr ähnlich; kein Wunder, denn beide sind ja ehemalige Zollkasernen, und da gab es wohl einen universellen Baustil, der im Detail den jeweiligen Erfordernissen angepasst wurde. In früheren Tagen war die Schweiz bei vielen Produkten deutlich günstiger als Italien, was den Schmuggel lukrativ machte und in Grenznähe eine Infrastruktur zu dessen Unterbindung erforderte.
Heute wird das Rifugio von der christlichen Organisation Matto Grosso betrieben, die eine Vielzahl von Rifugios in den italienischen Alpen und sogar drei in Peru besitzt.
Ich starte den Tag wieder mit den schon bekannten Höhenmetern hinauf zum Pass, über den ich wieder in die Schweiz einreise. Waren es bislang stets die italienischsprachigen Täler des Kantons Graubünden, so ist es heute der Kanton Tessin.
Vom Pass aus bietet sich bei guter Sicht ein Traumblick auf die Walliser und Berner Viertausender zwischen Monte Rosa auf der einen und dem Finsterarhorn auf der anderen Seite. Aber bei hochsommerlichem Hitzedunst ist davon natürlich auch so früh am Tag nichts zu sehen. Schade, war aber bei der vergleichsweise niedrigen Höhe des Passes nicht anders zu erwarten. Immerhin ist der Lago Maggiore nun gut zu sehen.
Hinter mir wird mit lautem Gebimmel eine Herde Kühe heraufgetrieben. Sie kümmern sich nicht um die Staatsgrenze und fressen, was sie kriegen können, ob lombardisches oder Tessiner Gras.
Mein Weg geht nun nicht direkt ins Tal, sondern verläuft als schöner Höhenweg mit vielen Ausblicken am Hang entlang bis zur Capanna Gesero, einer Hütte des Tessiner Alpenvereins UTOE. Hier ist ein erster Tiefblick ins Tal der Gotthard- Strecke möglich, die Berge der Zentralalpen hüllen sich jedoch genau wie die Viertausender in Wolken.
Dafür ist im Rückblick der Passo Sant' Jorio zu sehen, und über dem Pass schauen zum letzten Mal die Ostalpen herüber.
Es beginnt nun ein Almpfad, der mich in sanftem Gefälle weiterführt. Auf einer Wiese stehen Kühe, die texanischen Longhorn- Stieren alle Ehre machen würde. Ich muss mitten zwischen ihnen hindurch, da sie jedoch recht verstreut stehen ist das kein größeres Problem.
Kurz darauf stoße ich auf Bauwerke, mit denen ich in der Schweiz nicht gerechnet hätte: Schützengräben aus dem 1. Weltkrieg, und kurz darauf am Sasso Guido die Ruine einer größeren Stellung mit Bunkeranlage. Offensichtlich bestand damals die reale Gefahr, dass der große Krieg von Italien ausgehend auch die Schweiz treffen könnte. Am Stilfser Joch hatten die Schweizer nur einen Beobachtungsposten, hier haben sie sich jedoch regelrecht eingegraben.
Von hier an wechselt der Weg in den Wald, und bald ist an einem großen Schilderbaum auch schon mein nächstes Ziel angegeben: Zum Bahnhof des im Talgrund des Ticino gelegenen Guibiasco sind es offiziell noch zweidreiviertel Stunden, dazwischen liegen jedoch noch rund 1.400 Höhenmeter im Abstieg.
Zum Glück verlaufen diese meist im Schatten, denn mit jedem abgebauten Höhenmeter wird es nun immer wärmer; für den Talgrund wurde sogar eine Hitzewarnung ausgegeben.
An einem Brunnen fülle ich wieder Wasser nach, als ein Paar in meinem Alter vorbeikommt. Es entwickelt sich ein sehr nettes Gespräch. Die beiden kommen aus Einsiedeln in der Zentralschweiz und besitzen hier auf der sonnigen Höhe ein kleines Häuschen. Dank des Gotthard- Basistunnels sind sie von daheim in weniger als einer Stunde in Bellinzona. Wenn sie etwas transportieren müssen gäbe es leider keine Alternative zum Autobahntunnel; der sei jedoch seit dem Beginn der Corona- Zeiten stets chronisch verstopft.
Eine Stunde später kann man sehr schön auf Bellinzona herunterschauen, dann erfüllt Hubschrauberlärm die Luft: In mehreren Transportflügen werden die Utensilien einer am Berghang gelegenen Baustelle ausgeflogen, von Brettern bis zum Zementmischer. Es ist sehr beeindruckend, wie präzise und schnell die einzelnen Flüge sind. Auf der Fischerhütte am Schneeberg hatte der Hüttenwirt mir auch schon erzählt, dass der Helikopter seine Ladung auf den Zentimeter genau abliefert, natürlich zu horrenden Minutenkosten.
Durch einige oberhalb von Giubiasco liegenden Vororte und ihre Weinberge nähere ich mich dem Talboden. Hier stehen ältere Häuser und neue Villen bunt gemischt; bei letzteren sind diverse neuarchitektonische Bausünden nicht zu übersehen, eine erinnert mich sehr stark an die Villa aus Jacques Tatis MON ONCLE.
Dann bin ich endlich unten. Es ist inzwischen so heiß, dass ich Sorge um die Sohlen meiner Wanderschuhe habe.
Giubiasco ist kein Highlight schweizerischen Siedlungsbaus. Auf dem Weg durch den Ort komme ich jedoch an einem Dönerladen vorbei und kann nicht widerstehen. Natürlich kann das dargebotene Produkt in keinster Weise mit seinen Pendants aus Weilheim oder gar Berlin mithalten, aber sein nach vielen Hüttenessen völlig andersartiger Geschmack ist ein Fest für meinen Gaumen. Dass dafür ein Preis abgerufen wird, der daheim für zwei mit allen Extras reichen würde verbuche ich inzwischen unter eidgenössischem Lokalcolorit.
Den Döner esse ich am Bahnhof. Hier gibt es Schatten, einen Trinkwasserbrunnen auf dem Bahnsteig und für mein Eisenbahnerherz jede Menge zu sehen. Was hier innerhalb einer Stunde an Zügen durchläuft erinnert an die Frequenz im Münchner S-Bahntunnel, und soweit ich das mitbekomme ist jeder der vielen Personenzüge pünktlich. Ein Plakat der SBB zeigt mir auch schon einmal, was mich in Monaco erwartet.
Irgendwann muss ich jedoch wieder in die Hitze zurück, denn zum Campground in Gudo ist es noch ein Stück. Auf einer vielbefahrenen Brücke überquere ich den Ticino, dann kann ich zum Glück in einen schattigen Weg an seinem Ufer einbiegen.
Die letzten Kilometer des Tages verlaufen ereignislos, bis ich den kleinen Campingplatz La Serta erreiche. Dieser ist deutlich preiswerter als seine beiden Nachbarn flussabwärts, jedoch auch deutlich rustikaler. Einen Platz für mein Zelt kann ich mir selber aussuchen "wo Platz ist", die sanitären Anlagen sind eher einfach, und die Gebühr sammelt der deutschsprachige Patrone etwas unkonventionell im Laufe des Abends ein. Aber der Platz bietet alles was ich brauche, dazu gibt es für jeden Neuankömmling ein Begrüßungsbier.
Dieses kommt gerade recht, denn eine anderweitige Versorgung mit Essen und Trinken scheidet aus: Das kleine Restaurant nebenan akzeptiert keine Kreditkarten. So falle ich wegen meines auf sieben Franken geschrumpften Bargeldbestandes als Kunde aus, jedoch bleiben mir nur ein paar Kekse als etwas kärgliches Abendbrot.
Vor dem Lokal kann ich noch einmal hinaufblicken zum Passo, von dort ganz weit oben und hinten komme ich heute her.
Glück des Tages: Die Höhen- und Almwiesenwanderung im oberen Teil meines heutigen Abstiegs.
Gelaufen: 25,7 Kilometer
Bergauf: 225 Hm
Bergab: 1.879 Hm
Höchster Punkt: Oberhalb der Capanna Gesero (2.059m)
Übergänge: Passo Sant' Jorio, Ticino (Fluss)
Gipfel: keine