Hors cathégorie, außerhalb der Kategorien oder Ehrenkategorie, so werden die schwersten Bergwertungen bei der Tour de France genannt. Heute stehe ich vor dem wohl schwersten Pass meiner eigenen Tour des Alpes, zumindest von den Höhenmetern her: Knappe 1.800 Hm werden es bis oben wohl werden.
Daher beginne ich den Tag früh. Um 20 nach 6 habe ich alles verpackt und betrete die Bar meiner Unterkunft. Hier erlebe ich l'italianità, das italienische Leben, hautnah: Auf einen schnellen Kaffee oder Cappuccino kommt man ins Lokal, ob Straßenkehrer oder Schlipsträger; es wird gelacht, gescherzt oder geschwiegen, und nach zehn Minuten ist man wieder unterwegs. Das macht großen Spaß mitzuerleben, ist es doch weit entfernt von dem, was sich später und dann den ganzen Tag über hier abspielt, wenn die Touristen die Plätze belegen.
Draußen reicht die Sonne inzwischen über die Berge und taucht alles in ein herrlich goldenes Licht. Selbst die Einheimischen machen Fotos.
Doch alle Sorge ist unbegründet: Der Fußweg existiert und führt mich zwischen aufgelassenen Gärten bergauf. Einmal muss ich mich unter einem Kiwi- Baum hindurchzwängen. Ansonsten ist der Weg intakt und exakt so, wie er auf der Openstreetmap verzeichnet ist, er wird wohl auch ab und zu begangen.
Nach einer Weile des Steigens stößt der Weg auf eine kleine Straße, der ich nun folge. Hier sind die Häuser gepflegt, Hortensien ranken über die Zäune, und gelegentlich sind auch die Bewohner zu sehen. An mehreren Brunnen kann ich trinken und Wasser ergänzen. Ich habe mir schon seit langem angewöhnt, bei solchen Gelegenheiten die 0,5 Literflasche, die ich immer in der Hosentasche habe, zweimal leerzutrinken und erst dann, zusammen mit der Literflasche am Rucksack, neu zu befüllen; so hoffe ich, immer genügend Flüssigkeit zu trinken. Die stets erreichbare Flasche ersetzt für mich einen Wasserschlauch im Rucksack mit Trinkschlauch; dieses Trinksystem ist mir für meine Belange zu unhygienisch beziehungsweise zu schlecht zu reinigen. Eine weitere 0,5 Literflasche habe ich zusammengeknüllt als zusätzliches Backup noch im Rucksack, jedoch bislang noch nie gebraucht. Die verwendeten Flaschen sind normale PET-Flaschen aus dem Supermarkt und werden regelmäßig durch neue ersetzt.
Ein kleiner Fahrweg bringt mich zu einer höhergelegenen Straße, die ansonsten genau so aussieht wie die vorherige.
Mit einem älteren Herrn komme ich über seinen Zaun hinweg ins Gespräch, wobei ich nur aus dem Kontext schließen und im Zweifel nur raten kann, über was er spricht. Trotzdem ist es ein herzlicher Austausch.
Auch sonst lasse ich mir heute viel Zeit, um die Höhenmeter auf möglichst viele Stunden zu verteilen.
Immer weiter geht es hinauf und ins Tal hinein, der Ausblick wird immer alpiner. Bei einer Ansammlung von kleinen Häusern brennt der Grill, drei Männer haben ihn gut bestückt; zum Glück weht der Wind in die andere Richtung, denn Grillen geht mir am 57. Tag schon ab.
Am unter der Woche geschlossenen Rifugio Mottafoiada und seinem plätschernden Brunnen mache ich Mittagspause. Bei einem Bäcker in Gravedona hatte ich mir heute früh ein großes Stück kalte Pizza gekauft, die hier und jetzt himmlisch schmeckt.
Hinter der Hütte steht zum ersten Mal das Rifugio Jorio angeschrieben, mit der für Mountainbiker interessanten Entfernungsangabe von über zehn Kilometern. Das schockt mich zunächst ein wenig, aber ein Blick auf die Karte zeigt, dass die Straße über viele Serpentinen geht.
Über einen Almfahrweg gelange ich zur Alpe Starzona. Hier ignoriere ich meine Wegeplanung, denn mein eigentlicher Weg würde durch einen sonnenexponierten Südhang führen. Statt dessen bringt mich ein anderer Steig durch einen Hang mit vielen Bäumen und damit viel Schatten bis zum Rifugio Il Giovo. Dieses liegt an der staubigen Fahrstraße zum Rifugio Sant' Jorio, das schon oben unter dem Joch zu sehen ist. Das Rifugio Il Giovo ist natürlich auch geschlossen, die bauliche Substanz macht aber auch nicht den Eindruck dass hier oft geöffnet sein könnte. Aber ein Brunnen sprudelt, Schatten gibt es auch, also Zeit für die nächste Pause.
Dann beginnt der Endspurt. Die kleine Straße ist für die Höhe sehr gut ausgebaut und teilweise sogar gepflastert; das stammt noch aus der Zeit, als das Rifugio Sant' Jorio eine Kaserne der Guardia di Finanza war. Eine knappe Stunde dauert der eigentlich übersichtlich erscheinende Wegabschnitt noch, dann stehe ich vor dem Rifugio Sant' Jorio. Barbara, die Hüttenwirtin, sitzt vor dem Haus. Meine Internet- Anmeldung auf der Hütten- Homepage hat sie irgendwie nicht erreicht, was jedoch kein Problem sei, denn die Hütte sei "nicht voll"; das ist eine nette Umschreibung für 'ich bin der einzige Gast'.
Sie zeigt mir den Schlafraum und den Waschraum, gibt mir ein Handtuch für die - kostenpflichtige - warme Dusche und bespricht mit mir den Speiseplan. Hier sind mir Pasta wichtig, was für sie gut passt.
Nach dem Duschen gehe ich noch die 10 Minuten hinauf zum Passo Sant' Jorio und zur kleinen Kapelle auf der Chiesetta etwas oberhalb des Jochs. In der warmen Abendsonne sitze ich eine Stunde angelehnt an den italienisch/ schweizerischen Grenzstein und schaue hinunter auf den im Dunst gerade noch erkennbaren Lago Maggiore. Morgen muss ich da wieder runter.
Zum Abendessen gibt es besagte Pasta mit Bolognese- Sauce, gekochte Zucchini und eine Auswahl leckeren Almkäse; dazu eine Dose BECKS BIER, das es das hier gibt ist schon erstaunlich.
Glück des Tages: Eine sonnige Stunde am Grenzstein mit Blick auf die Schweiz und den Lago Maggiore
Gelaufen: 24,5 Kilometer
Bergauf: 1.927 Hm
Bergab: 206 Hm
Höchster Punkt: Chiesetta (2.090m)
Übergänge: keine
Gipfel: Chiesetta