Ich habe die Wahl zwischen laufender Klimaanlage oder Fenster auf und Ruhe nur zwischen 0.00 Uhr und kurz vor sechs. Da mir eine die ganze Nacht laufende Klimaanlage wegen der Erkältungsgefahr mehr als suspekt ist, habe ich mich für die Lösung mit offenem Fenster entschieden. Damit war die Nacht natürlich vorbei, als die Kehrmaschine in die Altstadt einfuhr.
Das Frühstück ist ok, leider hat der Kellner wohl alles andere im Kopf als meine zweite Tasse Americano.
Durch die Altstadt von Chiavenna zum Bahnhof ist es ein kurzer Spaziergang. Vielleicht bin ich schon entwöhnt von Städten, aber ich finde es, wie schon gestern Abend, herrlich, hier entlangzulaufen.
Den Supermarkt am Bahnhof durchsuche ich vergeblich nach Sekundenkleber - die Sohlenverklebung meiner Wanderschuhe hat sich an einigen Stellen wieder gelöst und muss dringend ergänzt werden. Einige Aprikosen und Pflaumen wandern statt dessen in den Einkaufskorb.
Danach nehme ich den Zug aus der Stadt und den sie umgebenden Gewerbegebieten.
Ich probiere heute wie jeder zweite hier Zug fahren ohne Maske; ich kann ja immer noch sagen, dass ich sie vergessen habe aufzusetzen. Was passiert? Der Schaffner kommt, kontrolliert meine Fahrkarte und geht weiter.
Nach ein paar Minuten steige ich in Samolaco aus, eine winzige Haltestelle außerhalb der städtischen Besiedlungszone. Jetzt muss ich ersteinmal ein gutes Stück über eine Asphaltstraße, kaum befahren, aber trotzdem ziemlich öde - fast kommt wieder Jakobsweg- Feeling auf.
Aber dann steht der große Moment des Tages an: Ich überquere die Mera, die hier im Valchiavenna
- und damit für meine Tour - die Grenze zwischen Ost- und Westalpen markiert. Ich bin schon ein wenig stolz auf mich, während ich über die Brücke laufe: In 55 Tagen habe ich die Ostalpen durchquert. Wahnsinn.
In Casenda steht ein ungewöhnlicher Brunnen: Das Wasser läuft in einen großen steinernen Schuh, und gleich daneben steht ein Gerät, das Sprudel aus dem Wasser macht. Das wird gut angenommen: während ich meine Flaschen fülle, kommen drei Leute vorbei, um sich ihr Wasser zu zapfen.
Durch einen schattigen Wald geht es nun einige Zeit flussabwärts an der Mera entlang, bis der Aufstieg zur Alpe di Teolo und zum "Bellevue" über den Lago di Mezzola beginnt. Erstere erweist sich nach einem überraschend schwierigen Aufstieg auf einem steilen felsigen Steig als äußerst unspektakuläre Ruine im Wald; zweitere ist dagegen beeindruckend, hoch auf einem schroffen Felsen direkt über dem See.
Es folgt eine gute Stunde Höhenweg mit immer neuen Ausblicken. Obwohl es nun zunehmend heiß wird, macht dieser Steig richtig Spaß.
Kurz vor Dascio stößt der Wanderweg auf eine kleine Straße. Hier stehen ganz vereinzelte Wochenendhäuser im Wald mit schöner Aussicht auf See, Tal und Berge. Aus einem hört man schon von weitem laute Musik. Als ich näherkomme, erkenne ich: Es läuft "Du kannst nicht immer 17 sein" von Chris Roberts in Disco- Lautstärke. Offensichtlich wird das Haus umgebaut, und die Handwerker, angereist mit einem Sprinter mit Kennzeichen aus Freudenstadt im Schwarzwald, brauchen akustische Motivation. Als Chris Roberts fertig ist folgt unüberhörbar "Ibiza" von Ibo, vom nächsten Song höre ich dann nur noch die immer leiser werdenden Bässe. Immer wieder erstaunlich, was man so erlebt.
Der Höhenweg endet an der Kirche San Miro oberhalb von Sorico. Zum ersten Mal zeigt sich von hier oben der Lago di Como in voller Schönheit, wie ein Fjord zwischen hohen Bergen.
Anschließend steige ich ab bis zum Seeufer, dem ich dann bis Gera Lario folge. Ich wandere an spießigen Campingplätzen, Liegewiesen und grobkiesigen Stränden vorbei; in diesem Abschnitt hat der Comer See noch wenig Klasse und erinnert eher an den Gardasee.
An einem funktionierenden Wasserspender kann ich mich jedoch zwischendurch endlich ein wenig abkühlen, die Hitze ist wirklich mörderisch.
Der kleine Hafen von Gera Lario ist dann schon ein wenig hübscher als das bisherige Ufer. Leider endet hier der attraktive Uferweg, er folgt die nächsten Kilometer meist der dichtbefahrenen Straße. Da in zwanzig Minuten ein Bus fährt, fällt die Entscheidung leicht: Eine kurze Busfahrt ist besser als eine laute Hitzequälerei.
Wenige Minuten später bin ich in Gravedona. Google Maps weist mich durch einige enge Gassen bis zum Seeufer. Hier ist es nun traumhaft schön.
Ich habe ein Zimmer in der
Nuovo Bar Centrale bekommen, direkt an der verkehrsberuhigten Uferstraße.
Mein Zimmer hat zwar keinen Seeblick, aber wenn das Wasser direkt vor der Tür ist, braucht man das ja nicht unbedingt.
Ich kaufe im nahegelegenen Supermarkt ein paar Dinge ein, auch mit Blick auf den morgigen Ruhetag, dann lasse ich den Tag ganz entspannt ausgleiten mit einem Bier und Pizza; ein wenig Glück beschert mir hierzu sogar einen Platz in der ersten Tischreihe der Uferlokale.
Glück des Tages: Mit Überqueren der Mera bin ich in den Westalpen.
Gelaufen: 21,9 Kilometer
Bergauf: 604 Hm
Bergab: 575 Hm
Höchster Punkt: Oberhalb vom Lago di Mezzola (487m)
Übergänge: Mera (Fluss)
Gipfel: keine