Half Way Point.
Jede Fernwanderung hat ihre Halbzeit, ihre Mitte. So auch die Route Wien - Côte d'Azur, wobei es hier, weil jeder seine Etappen individuell plant, keinen echten 'einzigen' Mittelpunkt gibt. Die einen legen die Mitte auf die Hälfte der Distanz, das wäre ungefähr auf der Höhe von Bozen. Dann käme das Stilfser Joch in Frage, da hier mit dem Wechsel von Deutsch auf Italienisch ein echter Umbruch in Sprache und Kultur stattfindet. Für mich ist die Halbzeit erreicht bei der ungefähren Hälfte meiner Etappen, und dieser Punkt fiel in der Vorplanung auf Maloja. Dass dieser Punkt so weit im Westen liegt, kommt daher, dass wegen der schwierigeren Topographie auf der Westhälfte der Tour mehr Etappen notwendig sind, um voranzukommen als während der Osthälfte.
Somit beginnt heute früh die zweite Hälfte der 'Tour des Alpes'; von nun an liegen mehr Tage hinter als vor mir.
Zur Frühstücksvorbereitung treffen wir uns um 20 nach sieben in der Küche. Es gibt eine umfangreiche Checkliste, was alles zu machen ist; da ich nur einen Tag da bin übernehme ich die Tischdeck- und Handlangerdienste.
Beim reichhaltigen Frühstück sitze ich dann zusammen mit einer netten Familie mit drei kleinen Kindern aus der Nähe von Luzern. Sie wollen den Inn- Radweg fahren und sind für zwei Nächte hier zu Gast.
Mit gemischten Gefühlen verlasse ich Salecina. Ich bin dankbar über die sehr freundliche, ja fast kameradschaftliche Aufnahme für eine Nacht; für mich persönlich wäre diese Art des Urlaubs jedoch nichts; kaum Privatsphäre, umgeben von Selbstorganisations- Diskussionen und vor allem den 'freiwilligen Pflichten', die die Ferien ähnlich durchtakten wie den Alltag.
Heute möchte ich den Tag mit einer kurzen Busfahrt beginnen, da ich auf einen Marsch nahe der Serpentinen der Maloja Passstraße und dem Auto- und Motorradlärm keine Lust verspüre. In Casaccia, gleich unter dem Pass gelegen, starte ich dann Richtung Soglio.
Als ich jedoch nach kurzer Wanderung in Maloja und der Passhöhe ankomme, ist der Bus nach Casaccia seit zehn Minuten weg. Ich mache ein paar Erinnerungsfotos und strecke dann wieder den Daumen raus. Sonntags um 9 Uhr ist leider nicht die ideale Zeit zum Trampen, das merke ich schnell. Nur wenige Autos, die zudem meist gut gefüllt sind, fahren an mir vorbei. Und bei denen mit Schweizer oder Deutschem Nummernschild brauche ich mir auch kaum Hoffnungen zu machen, denn die Insassen schauen stets angestrengt an mir vorbei. Trotzdem dauert es keine zehn Minuten, da hält ein italienischer Golf und nimmt mich mit. Francesca arbeitet in St. Moritz und ist auf dem Weg zu einer Einladung am Comer See. In flotter Fahrt nimmt sie die Kehren, überholt dabei lässig zwei Autos und erkundigt sich währenddessen auf Englisch über meine Tour. Sie selber sei schon zum Trekking in Patagonien und in Amerika gewesen, in den Alpen habe sie jedoch noch keine Tour gemacht, die länger als drei oder vier Tage dauerte. In Casaccia lässt sie mich nahe der Kirche raus, und wir wünschen uns gegenseitig einen schönen Tag.
Der "Sentiero Panoramico" nach Soglio beginnt ganz profan mit einer Wanderung durch den weiten Talboden, aber bereits mit einem Prachtblick auf die steilen Wände des Bergell. Diese gigantische Felsmauer wird mich heute den ganzen Tag begleiten. Ein Staudamm ist hoch oben zwischen den Felsen erkennbar; es ist die 115 Meter hohe Staumauer des Albigna-Sees.
Hinter einem kleinen Stausee im Tal und einem Kraftwerk der Züricher Stromversorgung wechselt der Weg vom Talgrund in den westlichen Hang. Das Wasser des Flusses ist so laut, dass die Straße nicht mehr zu hören ist.
Zunächst mit moderater Steigung meist über einen Fahrweg, wird es ab dem Dorf Rosticcio recht steil; ein Steig führt eine Wiese hinauf, hier geht es länger durch die pralle Sonne und es ist entsprechend heiß.
Doch nach dieser Steilstufe wird es moderater, häufiger Schatten entspannt das Wandern, und schwierigere Passagen über längst von hohen Bäumen überwachsene Bergsturzgebiete wechseln sich ab mit einfachen Wegen und zunächst auch noch kurzen Almsträßchen. Etwas besonderes sind die Bach- Kreuzungen, denn das Wasser kommt stets von weit oben wild heruntergestürzt.
Für Aussicht ist zudem immer gesorgt, spektakulär in den Bergeller Felsen ist vor allem der Gletscher des Bonasca- Tals oberhalb von Bondo, aber auch die Nordkante des Piz Badile, an der sich die Wolken ballen.
Schließlich höre ich Kirchenglocken, ich habe Soglio erreicht. Bei der Planung meiner Tour hatte ich einige Wunschziele, die ich soweit möglich unbedingt besuchen wollte: Der Schneeberg, Krajnska Gora oder die Drei Zinnen, und auch Soglio stand auf dieser Liste. Dieses so ideal über dem Tal und vor den Bergeller Bergen gelegene Dorf mit seiner markanten Kirche hatte es mir angetan, seitdem ich von ihm gehört hatte.
Und es ist tatsächlich eine wunderschöne Stunde, die ich in diesem großartigen Bergdorf verbringe. Es sind heute kaum andere Touristen hier, ich kann so in aller Ruhe durch die pittoresken Gassen schlendern, Fotos machen und mich umschauen. Die Kirche enthält zudem eine Überraschung: Von außen erscheinend wie eine klassische Vertreterin des italienischen Katholizismus, zeigt sie von innen ihren Charakter als evangelisch- reformiertes Gotteshaus mit entsprechend schlicht- strengem Interieur.
Zum Ende des Besuches finde ich auch noch einen Fotostandort, der Dorf, Kirche und Bergell in einem Motiv vereint. Perfekt.
Nach der Dorfbesichtigung wähle ich den Abstiegsweg nach Castasegna. Auch hier erwartet mich ein unerwartetes Highlight: Ein hoher Wasserfall wird von hinten durch einen schmalen dunklen Tunnel umgangen, der umso finsterer ist je mehr man aus der Sonne kommt.
Nach einem kleinen Freilichtmuseum mit herrlichen Maronenbäumen erreiche ich Castasegna, ebenfalls ein Ort mit malerischen Gassen, aber deutlich größer als Soglio und im Tal statt am Berg gelegen.
Entlang der Mera führt die Via Bregaglia, ein Fernradweg, der jedoch irgendwann auf die Staatsstraße mündet.
Hier bekommt die Wanderung nun Jakobsweg- Charakter: Heiß, staubig und entlang einer Straße, zu der es keine Alternativen gibt.
Eine halbe Stunde entlang des Straßenverkehrs später bin ich in Villa di Chiavenna und riskiere einen Blick in den Busfahrplan; und da in kaum 10 Minuten ein Bus nach Chiavenna abfährt, beschließe ich, die heutige Wanderung hier enden zu lassen.
Ein typischer Schweizer Postbus, seine Fahrt beginnt in St. Moritz, bringt mich in 10 Minuten ins Zentrum von Chiavenna.
Hier bin ich nun richtig in Italien. Eine schöne lebensfrohe Altstadt empfängt mich, und an dessen Rand wartet das Hotel Conradi; von außen ein kaum attraktiver Zweckbau aus den 60ern, ist mein Zimmer top, modern und frisch renoviert.
Nach einer ausgiebigen Dusche wähle ich für das Abendessen anhand der Kritiken bei Google das Ristorante l'Arca und werde nicht enttäuscht. Nach einer leckeren Pasta als Vorspeise und einer großen Pizza ist auch mein riesiger Hiker- Hunger befriedigt.
Glück des Tages: Ich war in Soglio, und es war richtig schön.
Gelaufen: 26,9 Kilometer
Bergauf: 479 Hm
Bergab: 1.249Hm
Höchster Punkt: Malojapass (1.815m)
Übergänge: Malojapass
Gipfel: keine