Interessanterweise konnte man in meinem Zimmer keine Gardine zuziehen oder es anderweitig abdunkeln, besonders weil vor dem Fenster eine Straßenlaterne steht. Aber mit meiner Augenbinde von der Lufthansa konnte ich meine eigene Verdunkelung herstellen und habe sehr gut geschlafen. So ein Bett in einem gut geführten Albergo ist doch etwas völlig anderes als ein mehr oder weniger durchgelegener Schlafplatz in einer Hütte.
Das Frühstück ist für italienische Verhältnisse ausgesprochen reichhaltig, es gibt richtiges Müsli, Kuchen und frisches Obst.
Ich hatte versucht, hier einen Pausentag einzulegen; aber leider bin ich zum Wochenende angekommen, und für die nächste Nacht, das heißt von Samstag auf Sonntag, ist hier alles ausgebucht.
Ausgeschlafen und gestärkt starte ich in den Übergang in die Schweiz. Es sind bereits viele Menschen auf der Straße und schlendern durch das Dorf. Auch auf meiner Route in Richtung Passo del Muretto, die vor dem hintersten Hotel Chiareggios beginnt, bin ich nicht alleine.
ln vielen immer gleichen Serpentinen windet sich ein kleiner Almfahrweg in moderater Steigung in die Höhe. Meist geht es dabei durch herrlich schattigen Wald. Gelegentlich öffnen sich aber auch schöne Rückblicke auf den direkt hinter mir aufragenden Monte Disgrazia, der, je höher man kommt, immer mächtiger wirkt. Der Aufstieg macht richtig Freude.
An einer Wegeteilung steht zum ersten Mal "Passo del Maloja (Suisse)" angeschlagen. Dies ist insofern eine Premiere, als dass bei allen bisherigen grenzüberschreitenden Passübergängen meiner Tour die Angaben auf den Wegeschildern immer an der Grenze endeten und nie ein 'internationales' Ziel jenseits der Grenze angegeben war; egal von welcher Seite.
Auch jenseits der Baumgrenze bleibt die Route gut ausgebaut, der befestigte Weg führt fast bis unter die Passhöhe. Sind das noch Relikte der früheren Bedeutung dieses Passes als wichtigste Handelsroute zwischen dem Veltlin und Chur beziehungsweise dem nördlichen Alpenvorland?
Je höher ich komme, desto stärker wird der Wind, der mir über den Pass entgegenweht. Überhaupt haben es die letzten Höhenmeter in sich, sie sind sehr anstrengend und ich bin froh, als ich endlich oben bin.
Im Windschutz des einzigen größeren Felsens hat sich ein älteres Pärchen zum Sonnenbaden niedergelassen, so bleibt mir nur ein Rastplatz quasi hart am Wind.
Der herrliche Blick hinüber nach Graubünden zeigt eine verschwenderische Anzahl von Gipfeln, von denen ich keinen einzigen, der bei PEAKFINDER genannt wird, auch nur dem Namen nach kenne.
Vier Bergläufer aus mindestens drei Generationen kommen nacheinander von Maloja her herauf, gerne mache ich von ihnen ihr Erinnerungsfoto, bevor sie sich wieder auf den Rückweg machen.
Für den Abstieg gibt es laut den mir vorliegenden Informationen zwei Varianten, eine steile durch die Rinne unter dem Pass, und eine zweite, die links in einer Schleife durch einen Hang hinabgeht und von hier aus weniger steil aussieht. Von den großen Schneefeldern, vor denen gewarnt wird, ist im schneearmen Jahr 2022 nichts mehr zu sehen.
Ich entscheide mich für die zweite Wegvariante und komme auf ihr ein gutes Stück hinab, bis sich der Weg im Schutt verliert; die plausibel erscheinende Fortsetzung entpuppt sich als eine Art trockenes Bachbett, durch das bei Starkregen das Wasser abläuft. Was tun? Zurücksteigen erscheint wenig attraktiv und ist in dem feinen Schotter wahrscheinlich nur mit großer Anstrengung möglich, dem Bachbett folgen wird zunehmend bröselig und in der Steilheit des Hanges gefährlich. Also puzzle ich mir, Schritt für Schritt sicheren Halt suchend, meinen Weg hinab bis zum munter rauschenden Bach im Talgrund. Das ist gut verantwortbar und funktioniert insgesamt auch ziemlich gut, einmal lande ich trotzdem auf dem Hosenboden.
Unten angekommen schaue ich noch einmal zurück und schüttle den Kopf, dass dieser 'Abstieg' nicht schon oben gesperrt oder angesichts seines Zustandes als nicht gangbar gekennzeichnet ist.
Dem Bach folgend steige ich nun hinab und treffe bald auf den aus der Rinne kommenden Weg.
Den weiteren Abstieg durch das Val Muretto Richtung Maloja kann man nur als sehr mühsam beschreiben. Es geht gut zwei Stunden lang über unangenehmes Blockgestein und kleine Felsen, die überstiegen werden müssen. Die Markierung des Steigs ist für Schweizer Verhältnisse ausgesprochen schlampig, an manchen Stellen sind die Zeichen widersprüchlich, an anderen an völlig falschen Felsen weit neben dem Pfad angebracht und verwirren mehr als dass sie helfen. Die inzwischen allgegenwärtigen Steinmänner kann man meiner Erfahrung nach zur Orientierung sowieso vollständig ignorieren, da offensichtlich jeder, wenn irgendwo fünf Brocken beisammen liegen, einen Steinmann meint bauen zu müssen.
So bin ich froh, als ich endlich die kleine Brücke bei der Alm Plan Canin erreiche, die hoch über den wilden Abfluss des Fornogletschers führt. Ab hier ist der Weg endlich wieder ein wenig kommoder.
Am Lägh de Cavloc, einem hübschen nicht ganz kleinen Bergsee mit einem Namen wie aus HERR DER RINGE, komme ich direkt an einer gemütlichen Einkehrmöglichkeit vorbei. Der Blick auf die Speisekarte, insbesondere Pasta für 22 Franken, lässt mich jedoch kopfschüttelnd weiterlaufen. Ich möchte in einem Berggasthaus einkehren und nicht auf den Champs-Élysées.
Kein Wunder, dass Heinrich, der Schweizer, den ich am Öhler Schutzhaus kennengelernt und dann einige Male wiedergetroffen hatte, die Preise in Österreich als günstig bezeichnet hatte, wenn man daheim solche Tarife gewohnt ist.
Meine heutige Übernachtung habe ich in Salecina gebucht. Dies ist ein nahe Maloja gelegenes selbstverwaltetes Ferienzentrum, in dem die Gäste alles selbst organisieren und machen, vom Speiseplan bis zu den anfallenden Tätigkeiten, denn Köche, Reinigungskräfte oder ähnliches gibt es nicht. Ich bin sehr gespannt und werde freundlich empfangen. Da zur Zeit Kinderwanderwoche ist, werde ich statt in einem Viererzimmer in einem mit 12 Betten untergebracht; das sei nur halb belegt und so käme ich nicht mitten unter die Familien mit Kindern. Ich danke herzlich für diese Umsicht. Nachdem ich mein Bett bezogen habe, trage ich mich gleich in die Arbeitsliste für den abendlichen Spüldienst ein, und fürs Frühstück- Vorbereiten, damit ich morgen auf jeden Fall früh loskomme.
Zu Abend gegessen wird heute draußen an großen Tischen, ein sehr schönes Ambiente; und da ich an einem Tisch mit vielen kleinen Kindern gelandet bin, kann ich mir mehr oder weniger unauffällig noch zweimal nachnehmen.
Nach dem Essen ist Gruppenversammlung zur Organisation der nächsten Tage und zur Vorstellung der Neuankömmlinge. Nachdem alles besprochen scheint kommt das Thema Maskenpflicht auf die Agenda. Die Diskussion nimmt einen für das dritte Corona- Jahr denkwürdigen Verlauf, an deren Ende eine komplette Maskenpflicht für alle Erwachsenen für sämtliche Innenräume beschlossen wird. Wer hier wen vor was schützen will und wie sinnvoll das ist, auch angesichts der vielen Kinder, wird gar nicht besprochen. Kollektive Beschneidung steht über eigenverantwortlichem Schutz. Ich denke mir meinen Teil und bin froh, dass ich so keinen Urlaub machen muss.
Der Küchendienst nimmt mich dann noch anderthalb Stunden in Beschlag, danach tausche ich mich mit Houston Mission Control über die Buchungen für die nächsten Tage aus und gehe zeitig zu Bett.
Glück des Tages: Der wunderschöne Aufstieg zum Passo del Muretto.
Gelaufen: 20,3 Kilometer
Bergauf: 1.012 Hm
Bergab: 823 Hm
Höchster Punkt: Passo del Muretto (2.562m)
Übergänge: Passo del Muretto
Gipfel: keine