Dienstag, 19. Juli 2022

52. Tag: 15. Juli 2022 Rifugio Ca Runcasch - Chiareggio

Irgendwann musste er kommen: Der Tag, an dem es keinen Spaß macht und an dem ich rumschimpfe wie ein Rohrspatz.
Aber von Anfang: Nach dem Frühstück, bei dem Giancarlo leckeren Almkäse auftischt statt die üblichen gelben meist mehr oder weniger geschmacklosen Käsescheiben, breche ich bald auf. Das Wetter ist wieder fabelhaft, alle Wolken von gestern haben sich aufgelöst.
Gleich nach 300 Metern bin ich von der Szenerie eines hübschen Almdörfchens so abgelenkt, dass ich den unauffälligen Abzweig zum Campo Moro übersehe und vergnügt erst einmal gute 100 Höhenmeter auf dem falschen Weg absteige. Irgendwann biegt der Weg in die falsche Richtung, was mir komisch vorkommt und mich auf die Navi- App schauen lässt. Also wieder hoch, der Schlenker kostet mich fast eine halbe Stunde.
Der Weg nach Campo Moro zieht sich, die auf dem Wanderschild angezeigten 30 Minuten sind mit Blick auf den schwer zu gehenden knubbeligen Untergrund eher eine optimistische Phantasieangabe. Interessant ist: Es geht direkt unter einer wuchtigen zum Teil überhängenden Felswand hindurch, bei der die Kletterrouten unten mit Schwierigkeitsgrad angeschrieben sind. Nach mehr als einer Dreiviertelstunde habe ich die Staumauer des Campo Moro- Sees erreicht. Auch er ist - wie der Lago Cancano vor einigen Tagen auch - halbleer und offensichtlich für größere Schmelzwassermengen ausgelegt, als sie in diesem eher schneeärmeren Jahr anfielen.
Der Weg geht zum Wandfuß der Staumauer hinunter, und hier übersehe ich zum zweiten Mal heute den für mich relevanten Abzweig der Via Alpina. Diesmal ist es Bauchgefühl und ein Routineblick auf die App, der mich meinen Fehler gewahr werden lässt. Nach einer vergeudeten Viertelstunde biege ich dann richtig ab. Nun liege ich insgesamt eine Stunde und 300 Höhenmeter hinter dem Plan.
Die Via Alpina baut auf einem schönen Steig im dichten Bergwald ordentlich Höhenmeter auf und biegt dann, weiterhin im Wald, in ein Seitental ein. Nur an einer Stelle bietet sich eine hübsche Aussicht. Am Ende des Tals kommt ein Abzweig, den die Aufstiegs- Aspiranten des Piz Bernina auf dem Weg zu ihrem Viertausender zu den Rifugios Marinelli und Marco e Rosa nehmen. An dieser Stelle vollzieht der Weg eine beinahe 180 Grad- Wendung, verliert schnell an Höhe und führt in 200 Metern Luftlinie vom Hinweg entfernt unterhalb von diesem wieder zurück bis zur Alpe Musella, wo ich an einem Brunnen Wasser nachfassen kann. 
Eine halbe Stunde später, insgesamt mehr als zwei Stunden bin ich seit dem zunächst verpassten Abzweig an der Staumauer nun unterwegs, kommt von links ein Weg vom Campo Moro, der die ganze Via Alpina- Runde durch das keineswegs außergewöhnlich attraktive Hochtal abgekürzt und deutlich Höhenmeter gespart hätte. Aber so kann es kommen, wenn man Etappen einfach so übernimmt, selbst wenn die Quelle die Via Alpina ist. Auch hier beiße ich noch die Zähne zusammen.
Nun folgt als Höhepunkt des Tourentages die Überquerung des Gletscherabflusses, dessen Rauschen im ganzen Tal zu hören ist. Ein schmaler Steg führt über das tosende grau- schmierige Wasser; es braucht beinahe ein wenig Mut, um die Brücke zu passieren.
Kurz darauf endet das kommode Wandern, und die GPS- Navigation lässt mich in eine steile sonnenexponierte Skipiste einbiegen und ihr auf einer Schotterstraße bergan folgen. Nun wird es heiß, öde und durch die Steilheit mega anstrengend. Sollten irgendwo die Höchststrafen für Wanderer definiert werden, solche Exkursionen an Skipisten gehören definitiv auf diese Liste. Nach einer halben Stunde Schinderei platzt mir endlich der Kragen; die Kühe, die meine ebenso lautstarke wie hemmungslose Schimpfkanonade mitbekommen, können zum Glück kein Deutsch.
Aber es hilft ja nichts, niemand trägt mich dort hinauf zum Bocchel del Torno, dem Übergang zum Lago Palu. Also Wut in Energie umsetzen und weiter.
Der anschließende Abstieg zum Lago ist wegen einiger unangenehmer Stellen nicht ganz einfach, aber das macht viel mehr Spaß als das Skipisten- Gestapfe. Am Ende dieser Passage warten einige hübsche alte Hütten mit Traumsicht auf den Monte Disgrazia. Der Lago Palu ist dagegen weniger reizvoll und erinnert an einen halbvollen künstlichen See für Schneekanonen.
Am Rifugio Palu kehre ich ein, das Hungergefühl ist heute einfach zu mächtig. "Pasta des Tages" sind heute Gnocci, aus denen mache ich mir nichts. Also bestelle ich Polenta mit Almkäse; dass auf der Karte vor der Polenta noch ein weiterer Begriff steht, übersehe ich leider. Auf dem Teller findet sich sodann ein klebriger Haufen, der am ehesten an groben Kuchenteig erinnert; optisch eher eine Vollkatastrophe, geschmacklich leider auch. Dumm gelaufen.
Die noch verbleibenden zweieinhalb Stunden nach Chiareggio sind eher reizarm und können meine Laune nicht mehr bessern. Das Gute ist, dass auch solche Etappen einen der Côte d'Azur näherbringen.
Gleichwohl, es ist immer wieder erstaunlich, welche Pointen und Wendungen sich ergeben können: Das Albergo Genziana in Chiareggio erweist sich als Volltreffer. Der Empfang ist freundlich, Zimmer und Bad sind mehr als ok, und zur Krönung ist das köstliche Essen einfach der Hammer, allen voran die Pasta mit Rehfleisch.

Glück des Tages: Dass mit dem fürstlichen Menü im Albergo Genziana auch dieser verkorkste Tag zu einem guten Ende fand.

Gelaufen: 26,6 Kilometer  
Bergauf: 991 Hm  
Bergab: 1512 Hm 
Höchster Punkt: Bocchel del Torno (2.203m)
Übergänge: Bocchel del Torno
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...