Nachdem meine Platznachbarn, laut ihrem Kennzeichen aus Landsberg kommend, gegen 23:15 Uhr endlich Ruhe gegeben hatten, war es eine prima Nacht.
Um 6 Uhr läutete die Dorfkirche, um 7 Uhr mein Wecker. Um 10 nach 8 stehe ich mit abgebautem Zelt und gepacktem Rucksack am Platz- Büro, denn um Viertel nach 8 soll der mobile Bäcker kommen. Er hat jedoch Verspätung, und ich komme erst um 20 vor 9 los.
Heute steht mit über 1.600 Höhenmetern im Aufstieg eine der Königsetappen meiner Tour auf dem Programm. Diese beginnt ganz profan mit einem verweigerten Hofdurchgang: Der Fahrweg, über den meine Route geht, führt an einem Hof vorbei; eine ältere Frau sieht mich und ruft mir ziemlich nachdrücklich zu, dass ich da nicht durchkönne. Ich winke mit meinem Handy, sie aber ruft, soweit ich das verstehe, es wäre zwar möglich, da entlang zu gehen, aber besser außenrum. Ich habe keine Lust auf Palaver und drehe um, laufe bis zum nächsten Dorf, dann eine Querstraße höher wieder zurück und komme an der Ausmündung des 'verbotenen' Fahrwegs wieder raus. Während ich durch das Dorf ging, wurde ich von mindestens zwei weiteren älteren Damen äußerst kritisch, wenn nicht gar feindselig, beäugt. Man scheint hier keine Fremden zu mögen und ich fühle mich an die Alten aus ASTERIX AUF KORSIKA erinnert.
Endlich auf dem richtigen Weg führt dieser mit ordentlicher Steigung aufwärts. Da die Luftfeuchtigkeit heute ungefähr auf dem Level von Hongkong liegt, bricht mir sofort der Schweiß aus. Zum Glück ist es noch bedeckt, so laufe ich zumindest nicht in der prallen Sonne.
Entlang des Weges hat sich eine große Anzahl Bremsen auf die Lauer gelegt und fallen nun über mich her. Manchmal sind fünf dieser Quälgeister auf einmal um mich herum, da hilft nur Geduld und eine schnelle Hand.
Poschiavo bleibt unter und hinter mir zurück, mein erstes Teilziel heute ist der Weiler Selva mit vielen Almgebäuden, Wochenendhäusern und zwei Kapellen. Hier teffe ich auf die VIA ALPINA, der ich nun für drei Tage bis Maloja folgen will.
In einem Mix aus kaum befahrbaren Almsträßchen, breiteren Forststraßen und schmalen Wegen steige ich hinauf bis zur Alp Cancian, bei der 2/3 des Aufstiegs geschafft sind.
Etwas oberhalb lagert eine italienische Wandergruppe, die in entgegengesetzter Richtung unterwegs ist und begeistert ist von diesem Übergang. Aber der Wetterbericht für heute ist nicht 100-prozentig, fügt einer zum Abschied noch hinzu. Und tatsächlich fangen bald die Quellwolken an, größer zu werden.
Ich erhöhe daher die Schlagzahl und komme auf dem schmalen Bergpfad, der mich nach oben bringt, schnell voran. Immer die Wolken im Auge behaltend steige ich über drei Geländestufen, bis ich am Passo da Cancian, mit 2.498m der erste heutige Übergang und gleichzeitig Verlauf der Grenze zwischen Italien und der Schweiz, ankomme.
Erst kurz vor der Passhöhe zeigen sich Piz Palü und Piz Zupo mächtig und beeindruckend; dass sie so plötzlich auftauchten, verstärkt diesen Eindruck noch. Zum Glück scheint die Wolkenbildung an Dynamik verloren zu haben, so kann ich hier eine Pause machen.
In einem unweit entfernten kleinen Bergsee spiegelt sich das Panorama- Ensemble, ein fast schon epischer Anblick.
Nun gilt es noch, den zweiten Übergang zu erreichen, den Passo di Campagneda, der bereits zu sehen ist. Dazwischen liegt ein von den Gletschern glattgeschliffenes und nur spärlich bewachsenes Hochtal, durch das zwei wilde Bäche voll grauem Gletscherschmelzwasser rauschen, einer gen Schweiz, einer gen Italien. Eine halbe Stunde dauert es, dann habe ich den heutigen Scheitelpunkt mit 2.626m Höhe erreicht. Das Panorama hat sich nun komplett gewandelt. Die Riesen der Bernina sind aus anderer Perspektive zu sehen, links schaut zusätzlich noch der Piz Bernina hervor. Auch im Osten sind ferne Gletscherberge zu sehen, wie meine Peakfinder- App anzeigt sind es Teile der Ortlergruppe, unter anderem Königsspitze und Cevedale. Am 43. Tag habe ich den Cevedale von der Hofschank Niedermair bei St. Peter im Kofel das erste Mal gesehen, nun bildet er mehr als eine Woche später einen Teil des rückwärtigen Horizonts.
Im Westen ist nun ein neuer Gigant dominierend im Blick, der in den nächsten beiden Tagen den Horizont bestimmen wird: Der riesige Monte Disgrazia.
Der Aufbruch zum Abstieg fällt mir schwer, aber ich bin ziemlich geschafft und will die heutige Etappe, so schön sie ist, hinter mich bringen.
Die ersten 200 Höhenmeter sind knifflig: Teilweise versichert und an vielen Stellen nur mit Konzentration zu gehen, ich bin froh, als ich diese Passage gemeistert habe.
Der Weg hinunter birgt jedoch auch noch ein landschaftliches Highlight, die Laghi di Campagneda; wunderschöne kleine Bergseen, einer schöner als der andere, und stets mit dem Monte Disgrazia als spektakulärem Hintergrund.
Ein Pärchen kommt mir beim Abstieg entgegen, ansonsten sehe ich hier niemanden mehr. In meine Richtung ist komischerweise niemand unterwegs.
Ein großer glatter Felsen kurz vor Erreichen der weiten Almfläche, auf der auch die Hütte liegt, lädt noch einmal ein zum Pausieren; diese Einladung nehme ich gerne an. Nach einigen Minuten Sitzen lege ich mich einfach hin und halte ein kurzes Nickerchen. Der Untergrund ist zwar hart, aber ich bin erschöpft genug, um richtig einzudösen.
Bis zur Hütte ist es nach dem Wachwerden noch eine gute halbe Stunde. Über dem Monte Disgrazia haben sich ein paar dunklere Wolken zusammengezogen, auf meiner Seite des Tals bleibt es weiterhin bei harmlosen kleinen Quellwolken.
Das Rifugio Ca Runcasch betritt man quasi von hinten, da die Terrasse und der Eingang zum Tal hin ausgerichtet sind; deshalb ist die Hütte auch schwierig zu fotografieren.
Der Hüttenwirt heißt Giancarlo und begrüßt mich sehr freundlich auf Deutsch. Er gibt mir die Schlüssel für ein 4er- Zimmer und bedeutet mir verschmitzt "Du hast Glück". Was er damit meint sagt er nicht; ich hoffe jedoch, dass ich alleine im Zimmer bleibe.
Zu diesem gehört ein eigenes Bad mit Dusche, die ich wieder ausgiebig nutze. Tatsächlich kommt dann niemand mehr in 'mein' Zimmer - herrlich...
Das hinsichtlich Menge und Geschmack eher durchschnittliche Abendmenü runde ich mit einem Tiramisu ab, irgendwie möchte ich diesen tollen Tag mit irgendetwas Besonderem feiern.
Glück des Tages: Vor den heutigen Höhenmetern und der Höhe des Scheitelpunktes hatte ich schon gehörigen Respekt. Aber es lief perfekt, ich kam sehr gut bis oben, und als Belohnung gab es diese Wahnsinnsaussicht.
Gelaufen: 19,2 Kilometer
Bergauf: 1.636 Hm
Bergab: 484 Hm
Höchster Punkt: Passo di Campagneda (2.626m)
Übergänge: Passo da Cancian, Passo di Campagneda
Gipfel: keine