Allein im Schlafsaal, da schläft es sich richtig gut. Ich wache kurz vor dem Wecker von Kuhglockengebimmel auf.
Heute steht der erste "richtige" Grenzübertritt in die Schweiz auf dem Programm. Franz, der schon einmal hier war, schwärmt schon vom Blick auf die Berninagruppe, der uns oben am Pass erwartet. Die Bedingungen für gute Sicht sind jedenfalls exzellent, denn die Sonne lacht weiterhin aus wolkenlosem Himmel.
Der Aufstieg zum Passo Viola führt noch einmal an einem schönen kleinen Bergsee vorbei, ist jedoch länger als erwartet, und der Schweizer Grenzstein steht schon deutlich früher vor mir als oben auf dem höchsten Punkt. So ist also ein wenig Geduld angesagt, bis schließlich die Scharte in Sicht kommt. Wie jedesmal seit Wien ist es ein spannender Moment: Wie sieht es wohl dahinter aus?
Mit einem Wort: Grandios. Wir schauen direkt auf die Gletscher des Piz Palü und Piz Zupo, rechts spitzt die Bernina hervor, und unter uns liegt der tiefblaue Lago Viola beziehungsweise Lagh da Val Viola, wie er auf Rhätoromanisch in der Karte verzeichnet ist.
Nach einer angemessenen Foto- und Genießerpause beginnt nun der lange Abstieg ins Puschlav, angefangen mit der Wanderung hinab ins Val da Camp.
Zunächst sind weite Bergwiesen zu durchwandern, immer umrahmt von wilden, mir völlig unbekannten Bergen.
Der Lago Viola ist bei diesem herrlichen Wetter bereits bevölkert, das tut seiner Schönheit jedoch keinerlei Abbruch. Ich bleibe hier noch ein wenig länger stehen - zu beeindruckend ist der Blick.
Kurz vor dem zweiten See, dem tiefer gelegenen Lago Saroseo, habe ich Franz und Sibylle wieder eingeholt. Dieser See liegt etwas abseits der Hauptwanderroute und bietet deutlich weniger zugängliche Stellen an seinem Ufer. So ist es hier viel stiller und intimer. Das Wasser ist so klar, dass man die vielen Baumstämme sehen kann, die auf seinem Grund liegen; wie lange die dort schon liegen?
Kurz hinter dem See trennen wir uns. Während ich weiter Richtung Poschiavo wandere, gehen die beiden über den Passo di Sacco zu ihrer nächsten Hütte.
Wieder allein geht mein Weg an der SAC- Hütte Rifugio Saoseo vorbei; hier kehre ich jedoch nicht ein, sondern erreiche kurz darauf einen neuen herrlichen Aussichtspunkt auf Piz Zupo und Piz Palü.
Danach muss ich ersteinmal ein gehöriges Stück aufsteigen, um vom Val da Camp in das Tal von der Poschiavo zu gelangen. Am Weiler Aurafreida mit mehreren zu Wochenendhäusern umgebauten Sennhütten ist dieser Geländeriegel überquert und ich kann das Puschlav und Poschiavo unter mir sehen.
Nur die gut tausend Höhenmeter dazwischen müssen nun noch abgebaut werden. Ich wähle hierfür den schmalen Almfahrweg, der in einer unendlichen Folge von Kurven und Kehren hinunterführt, bei bester Aussicht auf das Tal und die umliegenden Berge, allen voran immer noch der Piz Palü.
Erst fast ganz unten zweigt ein Fußweg ab, der in die Ortsmitte von Poschiavo führt. Auf diesem Weg muss ich ein am Hang gelegenes Gehöft passieren; hier werde ich zu Tode erschreckt: Zwei offensichtlich scharfe und angriffslustige Hunde wären über mich hergefallen, wenn uns kein Zaun getrennt hätte. So beschränken sich die beiden auf wüstes Dauerbellen, Zähnefletschen und aggressives Hin- und Herlaufen direkt am Zaun. Wer hier mit kleinen Kindern entlang läuft, hat hinterher jede Menge Trost zu spenden.
Poschiavo rühmt sich, einer der schönsten Orte der Schweiz zu sein. Und in der Tat macht das Ortsbild einen wunderschönen stark italienisch angehauchten Eindruck.
Im Zentrum ist ein Bauernmarkt mit vielen Besuchern; ich habe jedoch auf die vielen Menschen keine Lust und möchte nun nur noch zum Campingplatz.
Ich habe auf dem Platz 'Camping Boomerang' reserviert. Dieser liegt im Vorort-Gemeinde Li Court zwei Kilometer weiter südlich. Das sind dann die letzten Schritte dieses langen Tages, die ich monoton einen Schritt vor den anderen setzend abspule. Selbst das tolle Fotomotiv der Ortsdurchfahrt der Rhätischen Bahn durch Sant' Antonio lasse ich heute Abend links liegen; mit mehr Kraft hätte ich hier auf jeden Fall auf einen Zug gewartet.
Der Campground ist gut geführt, und zu meiner großen Freude gibt es in der kleinen Bar des Platzes sogar Pizza.
Ich könne mir einen Platz für mein Zelt aussuchen auf der großen Wiese hinter den Bungalows, teilt mir die nette, gut deutsch sprechende Frau an der Rezeption mit. Ich baue rasch meine Behausung auf und beschließe den milden Abend auf der Terrasse der Bar bei Pizza und Bier.
Glück des Tages: Vor zweieinhalb Tagen waren die Berge der Berninagruppe noch Erhebungen am Horizont, nun stehe ich direkt vor ihnen.
Gelaufen: 28,4 Kilometer
Bergauf: 524 Hm
Bergab: 1799 Hm
Höchster Punkt: Passo di Val Viola (2.432m)
Übergänge: Passo di Val Viola, Poschiavino (Fluss)
Gipfel: keine