Die letzte Nacht war fast so wie damals im Waxeneckhaus, nur ohne Party. Kaum hatte ich um halb 11 das Licht ausgemacht, kam noch eine Familie mit Kindern an, die keinerlei Rücksicht auf eventuell schon schlafende Gäste nahm. Da die Hütte sehr hellhörig ist und alle Zimmer auf einen geraden Gang rausgehen, war das Spektakel nicht zu überhören. Es wurde dann noch geduscht und sich zwischen verschiedenen Zimmern ausgetauscht; an Schlaf für mich war derweil nicht zu denken. Dass dann noch bis nach halb eins bei offener Tür zu besagtem Gang in der Küche und der Wäschekammer rumgekruscht wurde, verlängerte das Drama noch einmal.
Heute früh fragt mich die Chefin, ob alles ok sei. Meine Antwort "War ganz schön laut diese Nacht" wird einfach nur zur Kenntnis genommen.
Immerhin klappt das mit dem Frühstück, das war im Waxeneckhaus ja ein Problem, und es ist reichlich und völlig in Ordnung.
Die oberbayerischen Elektrosportler kommen etwas später in den Gastraum; einen Gruß haben nur die wenigsten von ihnen übrig, am wenigsten die einzige Frau, die in der Truppe den Ton angibt, obwohl sie offensichtlich von vielem nur wenig Ahnung hat, was sie erzählt. Komische Gesellschaft...
Nach dem morgentlichen Blick auf den Stausee beginnt heutige Weg auf der Asphaltstraße, die von Bormio und dem Valdidentro hier heraufkommt. Sie bietet direkt etwas fürs Auge, führt sie doch am kleinen Lago delle Scale vorbei, der sehr schön in der Morgensonne da liegt, wieder mit der spektakulären Cima de Piazzi als Blickfang dahinter.
Bei den beiden mittelalterlich wirkenden Torri di Fraele verlasse ich kurz die Straße, denn ein ordentlich st5eiler Weg führt zwischen ihnen hindurch, um weiter unten nach Abkürzen diverser Serpentinen wieder auf die Straße zu stoßen. Überhaupt führt die Bergstraße durch sehr viele Kehren, bis sie unten im Tal angekommen ist. Ein Traum für Radsportler, und es sind tatsächlich einige unterwegs, im Land des Giro d'Italia selbstredend ohne Elektromotor.
Ich brauche die Serpentinen der Straße jedoch nicht zu gehen, denn 200 Meter, nachdem ich sie von den Türmen kommend wieder erreicht habe, biegt eine schmale kaum befahrene Schotterstraße ab. Diese führt immer auf gleicher Höhe bleibend und alle Seitentäler ausfahrend über mehr als 10 Kilometer bis nach Arnoga. Diesem Sträßchen folge ich nun für gute zweieinhalb Stunden. Das klingt eintönig, ist es jedoch nur zum Teil, denn die Aussicht ist herrlich: Die Cima de Piazzi beherrscht das Panorama, ich werde heute ganz an ihr entlang und vorbei laufen. In der Ferne sind Teile der Ortlergruppe um Königsspitze und Cevedale zu sehen, deren Gletscher in der Sonne leuchten.
Trotzdem bin ich froh, als ich endlich Arnoga erreiche, ein Dorf in einer Spitzkehre der Straße Bormio - Livigno. Leider hat das örtliche Hotel geschlossen, das hätte zeitlich prima gepasst mit einer Einkehr.
Also wandere ich weiter, es geht hinein ins Val Viola, an dessen oberen Ende meine heutige Unterkunft, das Rifugio Viola, liegt.
Auch hier führt eine Straße weit ins Tal hinein und bis zur Hütte. Jedoch leitet mich mein daheim geplanter GPS- Track von dieser weg auf eine kleine Straße im Talgrund. Ich komme durch ein kleines Dorf, in dem eine große Kindergruppe eine Art Ferienlager verbringt, anschließend wird die Straße zum Wanderweg. Als mich mein Track wieder zur Straße führen will, folge ich den rot- silbernen Wegweisern, die weiter in den Talgrund leiten. Dadurch gelange ich schließlich zur Alpe Dosde, auf deren Weiden Esel, Pferde und Kühe grasen, mit hohen Bergen als Kulisse, das schaut aus wie in der Milka- Werbung.
Danach wird der markierte Steig ganz schmal und deutlich schwieriger zu gehen wegen vieler großer Steine und Felsen, die zu übergehen sind. Es geht an einem wilden Bach und schließlich an mehreren kleinen Bergseen entlang. Dieser Weg ist der krönende Abschluss eines in der ersten Hälfte eher drögen Wandertages.
Etwas oberhalb des letzten Sees liegt das Rifugio Viola. Dieses ist ein eher nüchterner Bau, der seine Geschichte als langjähriger Stützpunkt der Guardia di Finanza unmittelbar unter der Schweizer Grenze nicht ganz verleugnen kann.
Ich habe nicht reserviert, aber eine Übernachtung ist kein Problem, denn es werden nur noch zwei andere Gäste erwartet. So habe ich den großen Schlafsaal für mich alleine und kann mir ein Bett aussuchen. Außerdem gibt es als Clou unerwarteterweise eine in der Halbpension inkludierte heiße Dusche.
Netz oder WLAN gibt es hier dagegen keins. Nur direkt am Fahnenmast vor der Hütte besteht die Chance, vielleicht einen schwachen Kontakt zu erwischen, so die junge Hüttenmitarbeiterin; also versuche ich mein Glück, strecke im Schatten der Fahne das Handy in die Höhe und kann tatsächlich Houston Mission Control über meine Ankunft an der Hütte informieren.
Meine Mit-Gäste, die im anderen Schlafraum untergebracht werden, sind Franz aus Dortmund, der auf einer selbst entworfenen Fernwanderroute von München zum Comer See und irgendwann später Mailand unterwegs ist, und Sibylle aus Starnberg, die ihn auf den letzten Etappen bis zum See begleitet. Wir drei sitzen zunächst noch draußen in der Sonne im Windschatten der Hütte, dann gibt es Abendessen, in dem auch ein Viertel Rotwein enthalten ist. Der sehr nette Abend vergeht wie im Fluge.
In der ganzen Hütte stehen Lufterfrischer, so auch einer in meinem Schlafraum, der regelmäßig parfümierte Luft ausstößt. Das ist für mich ein No Go, zum Glück lässt sich das Problem sehr einfach lösen: Ich stelle das Stinkeding über Nacht auf die Fensterbank vor dem Fenster.
Glück des Tages: Der kleine Pfad an den vielen kleinen Seen entlang.
Gelaufen: 25,1 Kilometer
Bergauf: 606 Hm
Bergab: 256 Hm
Höchster Punkt: Rifugio Viola (2.314m)
Übergänge: keine
Gipfel: keine