Das Schlafen auf Level 2.800m hat mir nichts ausgemacht, im Gegenteil. Und aus dem Fenster ist heute früh tatsächlich die Bernina zu sehen, der erste Viertausender auf meiner Tour.
Das Frühstücksbuffet kann sich sehen lassen, zumal ich bei perfekter Aussicht frühstücken kann: Der Ortler steht völlig frei genau gegenüber, absolut überwältigend.
Die Chefin erzählt mir, dass vor zwei Wochen bereits eine Wanderin mit der Route Wien- Monaco hier übernachtet hat. War das vielleicht Jule, von der mir vor vielen Tagen die Wirtin der Wolfsberger Hütte schon berichtet hatte?
Fünf Meter vor der Hütte überquere ich die Grenze zur Schweiz und stehe wieder auf der Dreisprachenspitze. Sie markiert den Punkt, an dem sich die Sprachräume von Deutsch, Rhätoromanisch und Italienisch begegnen; das ist natürlich auch der Punkt, an dem sich die Schweiz, Italien und früher Österreich beziehungsweise jetzt Südtirol berühren.
Im 1. Weltkrieg stand hier auf Schweizer Boden ein Hotel, das von den Schweizern besetzt war, um die Neutralität und vor allem die Unversehrtheit der Schweizer Grenze sicherzustellen. Die Österreicher hatten direkt daneben ihr Lager Lembruch gebaut, an dem ich gestern vorbeigekommen war. Das Schweizer Hotel steht nicht mehr, dafür direkt daneben auf italienischem Grund das Rifugio Garibaldi.
Ich werfe einen letzten Abschiedsblick nach Südtirol, dann steige ich auf der anderen Seite ab Richtung Umbrailpass. Wieder stehen die Höchsten der Ostalpen am Horizont: Bernina und Piz Zupo, dem nur 4 Meter zur magischen Viertausender- Schwelle fehlen und der deshalb ein Sein fast ohne Besteigungen erlebt.
Auf der schmalen Schweizer Kriegsstraße, die einst hinauf zum Hotel Dreisprachenspitze führte, geht es nun zügig bergab, mit fast so vielen Kehren wie am Stilfser Joch. Eine Gruppe freundlich grüßender Mountainbiker überholt mich, kein Wunder, bin ich doch nicht nur auf der VIA ALPINA, sondern auch auf einer Transalp- Radroute unterwegs.
Kurz vor dem Umbrailpass arbeiten zwei Männer an der Kriegsstraße; ein kleiner Bagger steht steht auf dem Weg und unterbricht das Arbeiten, als ich vorbeikomme. Der Mann am Steuer heißt Dario, spricht mich auf meinen Rucksack an und schon ergibt sich wieder einmal ein interessantes Gespräch. Sie restaurieren die alte Straße, zum ersten Mal seit dem 1. Weltkrieg. Mehrere Vereine haben über Jahre hinweg dafür Geld zusammengetragen und in diesem Jahr ging es endlich los. Drei Jahre haben sie dafür veranschlagt, weil ja nur im Sommer gearbeitet werden kann.
Kurz darauf habe ich die Passhöhe des Umbrailpasses erreicht und wechsle wieder nach Italien.
Ein Wanderweg führt von hier aus unter der Flanke des Piz Umbrail hindurch; diesen 3.000er lasse ich aus Kraftreservegründen aus. Statt dessen steige ich hinauf zur Bocchetta di Forcola, immer mit herrlichem Rückblick auf den Ortler.
An diesem Übergang befinden sich die Ruinen einer großen italienischen Artilleriestellung einschließlich eines gut erhaltenen Kasernengebäudes, das innen natürlich Lost- Place- Charakter hat.
Nun geht es über zwei Stunden unter mächtigen Felswänden durch das wilde Valle de Forcola bergab. Fern jenseits des Talausgangs dominiert die Cima de Piazzi mit ihren Gletschern den Horizont.
Der Lago di Cancano ist nur halb voll, trotzdem verschafft dem Stausee das Wasser der Gletscher eine attraktive Farbe.
Ich laufe über die Staumauer und erreiche bald das Rifugio Monte Scale. Heute habe ich solch einen Hunger, dass ich mir statt Kuchen eine Pasta Bolognese bestelle.
Zum Abendessen gibt es im Rahmen der Halbpension wieder ein Menü, dass sich jedoch, mit Ausnahme des Kuchens, kaum mit dem von gestern messen kann.
Außer mir ist noch eine Gruppe oberbayerischer E-Biker hier; sie bleiben jedoch unter sich, an einem Kontakt oder einem Gespräch mit mir sind sie nicht interessiert. Macht nichts, sonderlich sympathisch wirken sie nicht auf mich.
Glück des Tages: Der erste Viertausender am Horizont.
Gelaufen: 19,7 Kilometer
Bergauf: 450 Hm
Bergab: 1.296 Hm
Höchster Punkt: Dreisprachenspitze (2.843m)
Übergänge: Umbrailpass, Bocchetta di Forcola
Gipfel: Dreisprachenspitze