Das Bett im Hotel Mignon war zwei Klassen besser als im Goldrainer Hof. Ich habe geschlafen wie ein Murmeltier.
Das Frühstücksbuffet hält das Niveau des Abendessens, und zum Glück kann ich wieder beherzt zugreifen; auch an den Kaffee wage ich mich wieder heran.
Leider ist der Himmel heute völlig zugezogen, so dass ich den Ortler nicht sehen kann. Der Wetterbericht kann sich eigentlich die Zwei Tage- Vorschau komplett schenken; wie schon mehrmals während der Tour lag er vorgestern wieder einmal total daneben, als er für heute Sonne pur prognostiziert hatte. Zumindest meint man bei Südtirolwetter, dass es trocken bleiben und allenfalls im Ahrntal regnen soll.
Ich checke aus und gehe die 200 Meter zur Bushaltestelle hinunter. In der offiziellen Internet- Verkehrsauskunft "Südtirol Fahrplan" wurde die Abfahrt des Busses nach Gomagoi um 8.36 Uhr angegeben; der Aushangfahrplan an der Haltestelle gibt 8.26 Uhr an. Da kann ich jetzt noch so oft auf meinen Screenshot schauen, es ist 8.32 Uhr und der Bus weg.
"Never change a running system" denke ich mir, was gestern gut geklappt hat funktioniert wahrscheinlich heute wieder. Also Daumen raus beim ersten Auto das kommt - und tatsächlich hält es an. "Gomagoi?" frage ich, "Si" ist die Antwort. Es sind Vater und Sohn aus Bologna, die heute nach Mals fahren. Beide können sehr gut Englisch, und so entwickelt sich trotz der Kürze der Fahrt ein hochinteressantes Gespräch. Wie ich als Deutscher Südtirol einschätzen würde? Ich antworte, dass es schön und attraktiv sei, weil es wie Österreich mit italienischem Einschlag sei. Da hakt er nach: Wo findet denn dieser Einschlag statt außer in Bozen und beim Essen? Bingo, das war ein exzellenter Einwand. Er, so fährt er fort, fahre seit 30 Jahren nach Südtirol, und außer dass ihn alle verstehen und beim Essen würde er nicht bemerken, dass er noch in Italien sei. Es sei vorbildlich, was die Südtiroler mit ihrer Autonomie machten, und das beste sei, dass sie keine Steuern nach Rom abführen müssten. Bravo, so sein Schlusskommentar. Ich kann ihm nur aus vollem Herzen beipflichten. Die beiden bieten mir an, mich bis nach Trafoi zur Seilbahn zu bringen. Das nehme ich gerne an, erspart es mir doch den Asphalthatscher dorthin. Zum Abschied bedanken wir uns gegenseitig für das spannende Gespräch.
Ich mache ein paar Photos von Trafoi, immerhin die Heimat meines früheren Skiidols Gustav Thöni, dann gehe ich zum Sessellift hinüber. "Nur Bergfahrt und ein großer Rucksack?" fragt der Mann an der Kasse, "da hast Du bestimmt was besonderes vor, oder?". Ich berichte kurz von meiner Tour, und schon sind wir mitten in einem interessanten Austausch. Da weit und breit kein weiterer Fahrgast zu sehen ist, können wir uns in Ruhe unterhalten. Er betreue mit seiner Frau und anderen in Nepal einige Projekte, aber wegen Corona seien sie seit vier Jahren nicht mehr dort gewesen. Nun hoffe er, nach seiner Pensionierung im Herbst wieder hinzukommen. Außerdem wolle er in seiner Pensionistenzeit an seinem Ahnenforschungsprojekt weiterarbeiten, dafür müsse er aber unter anderem nach Cincinnati, denn der Bruder seines Großvaters sei dorthin ausgewandert. Viel zu tun, meine ich lachend. Zum Abschied schenkt er mir eine ganze Tüte RITTER SPORT MINI, die eigentlich ihm den Tag versüßen sollte, "Du kannst das sicher besser brauchen als ich."
Dann hilft er mir und dem Rucksack in den Lift, und zum Abschied drückt er meine Hand: "Alles Gute!"
18 Minuten langsamer Liftfahrt später komme ich an der Furkelhütte an. Was wäre das für ein Panorama, wenn die Wolken nicht die ganzen Gletscherberge ringsum enthauptet und ihnen die Gipfel genommen hätten. So schaut es natürlich aber auch beeindruckend aus, denke ich, als ich auf dem Goldseesteig Richtung Stilfser Joch loslaufe.
Der Weg kommt bald über die Baumgrenze und ist sehr gut zu gehen. Es ist sogar deutlich weniger kalt als gedacht, so dass die Fleecejacke erstmal in den Rucksack wandert.
Nach anderthalb Stunden treffe ich auf eine rastende Wandergruppe; wir erkennen uns wieder, es sind die Wanderer, die ich gestern zwischen Prad und Stilfs getroffen habe. Auch sie sind mit dem Sessellift heraufgekommen und ihre zweitägige geführte Tour endet heute oben am Pass. Am Goldsee, der jahreszeitenbedingt eher ein Teich ist, begegne ich den nächsten Kriegsstellungen. Sie stammen aus der Anfangszeit des Alpenkrieges, und wurden dann mit fortschreitender Waffentechnik aufgelassen, als Österreich die Stellungen oben an das Joch verlegen konnte.
Erst hier kann man die Passstraße hören, das heißt eigentlich nur die auf ihr fahrenden Motorräder, und kurz darauf kommt auch die hässliche Passhöhe in Sicht.
Aber in totalem Gegensatz dazu kommt gerade hier der große Auftritt des Ortlers: Für eine halbe Minute öffnen sich die Wolken und geben den Gipfel frei, und ebenso schnell schließt sich der Vorhang wieder, der Berg ist grau in grau wie zuvor. Ein Schauspiel, das seines Gleichen sucht, ich bin tief beeindruckt. Da niemand in der Nähe ist frage ich mich, ob das überhaupt jemand außer mir gesehen hat.
Kurz vor dem Ende der Etappe habe ich mir noch ein kleines Schmankerl überlegt: Die Besteigung der Rötlspitze, eines Dreitausenders unweit der Passhöhe. Der Weg dorthin führt auf einem kleinen Steig hinauf auf einen Grat und zu einem Wegweiser. Dessen Design ist eindeutig: Ich bin hier in der Schweiz. Dies wird sowohl von Google Maps als auch kurz darauf von einem Grenzstein bestätigt.
20 Minuten später habe ich den Gipfel erreicht, ein großer Steinmann markiert den höchsten Punkt. Die Aussicht ist auch in ihrer heutigen Limitierung beeindruckend. Neben den Gletschern quasi gegenüber begeistert mich, dass auf einen Gletscher der Ötztaler Alpen ein Streifen Sonne scheint und ihn weithin sichtbar anleuchtet.
Noch etwas macht die Rötlspitze für mich zu etwas besonderem: Je nach weiterer Ausgestaltung meiner Tour ist sie mit 3.026m Höhe vielleicht der höchste Punkt meiner gesamten Alpenüberquerung.
Selbst hier oben, auf über 3.000 Metern, blühen Blumen. Es ist immer wieder ein Wunder, dass Pflanzen mit diesen extremen Bedingungen und einer höchstens dreimonatigen Vegetationszeit zurecht kommen.Eine halbe Stunde später bin ich wieder unten und auf dem Steig zum Stilfser Joch.
Kurz vor der eher unauffälligen Erhebung der Dreisprachenspitze treffe ich auf die Ruinen einer kleinen Stadt. Hier, direkt an der Schweizer Grenze, befand sich die österreichische Hauptstellung zur Verteidigung des Passes, nach ihrem langjährigen Kommandanten 'Lager Lempruch' genannt. Auf über 2.800 Metern Höhe waren hier hunderte von Soldaten stationiert, es gab eine Kantine, Bäder, Aufenthaltsräume und so weiter.
500 Meter weiter bin ich am heutigen Etappenziel angelangt. Das Rifugio Garibaldi steht oberhalb der Passhöhe direkt am Gipfel der Dreisprachenspitze und ausweislich der Grenzsteine fünf Meter hinter der Schweizer Grenze und fünf Meter jenseits der Grenze Südtirols auf dem Gebiet der Lombardei.
Ich werde sehr freundlich empfangen, treffe aber bereits hier, unmittelbar nach dem Verlassen Südtirols, auf eine Sprachbarriere. Deutsch können ab jetzt nur noch Einzelne, Englisch fast nur die jungen Leute. "Plötzlich ist alles anders" beschrieb das Johanna in ihrem Blog "Mein großes Abenteuer".
Später taucht dann die Chefin auf, die glücklicherweise ein wenig Deutsch kann, und schon klappt die Verständigung wieder.
Mein kleines gemütliches Zimmer namens Bernina hat ein Etagenbett, aber ich habe das Zimmer heute für mich alleine.
Da ich heute wieder recht früh angekommen bin, steige ich noch hinab zum Stilfser Joch. Es erwartet mich eine Orgie der Hässlichkeit, noch scheußlicher als ich sie in Erinnerung hatte. Ich mache ein Selfie vor dem Schild der Passhöhe, hebe Geld ab am höchstgelegenen Geldautomaten Europas und trete bald den Rückweg an. Das Stilfser Joch ist mit 2.757m der zweithöchste Straßenpass der Alpen, und mit den 48 Kehren allein auf Südtiroler Seite für mich die Passstraße schlechthin; aber über seine Passhöhe deckt man besser den Mantel des Schweigens.
Zum Abendessen gibt es ein 4 Gänge-Menü, das mit dem Adjektiv lecker nur unzureichend beschrieben ist. Inzwischen sind drei Motorradfahrer aus Norwegen angekommen, so dass ich nicht mehr der einzige Gast bin.
Mit den allerletzten rötlichen Sonnenstrahlen öffnet sich später ein zweites Mal der Blick auf den Ortlergipfel. Und wieder stehe ich alleine da, um dieses stille Spektakel zu betrachten.
Glück des Tages: Zweimal war der Ortler frei, und ich hatte das Glück, es zu sehen.
Gelaufen: 13,9 Kilometer
Bergauf: 1.030 Hm
Bergab: 374 Hm
Höchster Punkt: Rötlspitze (3.026m)
Übergänge: Stilfser Joch
Gipfel: Rötlspitze, Dreisprachenspitze