Montag, 11. Juli 2022

46. Tag: 09. Juli 2022 Goldrain - Sulden

Das Schlimmste schien schon gestern Abend überstanden, und heute früh bin ich beim Aufstehen zwar noch ein wenig wackelig, aber sonst scheint alles wieder einigermaßen ok. Also werde ich weiterziehen, jedoch mit Blick auf meine aktuelle Konstitution das erste Drittel der heutigen Etappe, den Straßenhatscher zwischen Laas und Prad, überspringen.
Nach vorsichtigem Frühstück mit Pfefferminztee bringt mich die Vinschgaubahn nach Spondinig.
Zunächst überquere ich direkt hinter dem Bahnhof ein letztes Mal die Etsch, die hier - oberhalb der mächtigen Zuflüsse aus dem Martelltal und vom Ortler her - deutlich schmaler ist als bislang gewohnt. An der parkähnlichen Teichanlage des Angelvereins Prad muss ich eine Ehrenrunde drehen, da ich an dessen Ende unerwarteterweise auf einen Zaun treffe; dennoch hat sich der Abstecher gelohnt, denn so sehe ich bereits von hier unten die ersten Gletscher.
Die folgende Wegstrecke führt durch den Prader Sand, eine, wie man aus den vielen Infotafeln schließen kann, offensichtlich für Botaniker hochinteressante trockengefallene Schwemmlandschaft des Suldenbaches; für Durchwanderer ist es jedoch eher öde: viel Kies, spärliches Gestrüpp und kein Schatten.
Die Wanderwege lotsen einen dann auf einem schnurgeraden Weg parallel zum Suldenbach an Prad vorbei; mit Beginn der Steigung aus der Talebene schlage ich den 'Archaikweg' nach Stilfs ein, warum der Weg so heißt erschließt sich mir nicht. Kurz darauf betrete ich den Nationalpark Stilfser Joch.
Insgesamt mache ich heute ganz langsam mit vielen kurzen Pausen, da ich merke, dass doch noch einige Prozent Leistung fehlen. In der Ruhe suche ich die Kraft.
Der Blick zurück in den Vinschgau ist wieder prächtig, sowohl talauswärts Richtung Laas als auch taleinwärts nach Schluderns mit der Churburg.
Der Ausblick hat jedoch auch etwas von Abschied und Rückschau auf die letzten Etappen und Wandertage. Heute geht es aus dem Vinschgau heraus, und morgen werde ich Südtirol ganz verlassen.
Eine größere Wandergruppe pausiert am Wegesrand, verteilt auf die Schattenflecken. Ich überhole sie, nach Gesprächen ist mir heute nicht der Sinn. Bei meiner nächsten Trinkpause ziehen sie dann wieder an mir vorbei und ich hole sie trotz ihres eher gemächlichen Tempos nicht mehr ein.
Nun rückt der Ortler immer mehr ins Blickfeld. Mit 3.905m höchster Berg Südtirols, ein in seinen Dimensionen sehr mächtiger Koloss, der trotz seiner etwas geringeren Höhe bergsteigerisch auf gleichem Level steht wie viele der ganz hohen Alpengipfel. Auch wir hatten uns früher nach mehreren Touren auf leichtere Viertausender mit keinem Gedanken an den Ortler herangewagt, zu komplex, zu schwierig, zu weit oberhalb unserer bergsteigerischen Kompetenz.
Auch talauswärts ist Gipfelprominenz zu sehen: Die Weißkugel, zweithöchste der Ötztaler Alpen und einer der besten Aussichtsberge der Alpen, bei bester Sicht kann man von dort oben den Großglockner auf der einen und die Walliser Alpen auf der anderen Seite sehen.
Nach zwei Stunden schönen und langsamen Wanderns mit Ortlerblick erreiche ich Stilfs, ein sehr schmuckes und schön am Hang gelegenes Dorf. "Ein typisches Haufendorf" gibt eine Infotafel Auskunft, die Gründer suchten Schutz am Hang und ausreichend Wasser, jedoch war wenig Bauplatz verfügbar, so dass irgendwann immer enger gebaut werden musste. Tatsächlich stehen die Häuser dicht dicht mit engen Gassen dazwischen.
Ich spaziere durch Stilfs hindurch und schlage den Weg nach Gomagoi ein.  Dieser folgt erst einem Bachlauf, geht dann abwechslungsreich durch Wiesen und Wald, bis er das am Abzweig der Straße nach Sulden von der Stilser Joch- Straße gelegene Dorf erreicht.
Da der nächste Bus nach Sulden noch einige Zeit auf sich warten lässt, versuche ich es wieder mit Trampen. Der Daumen ist kaum ausgestreckt, da hält schon das erste Auto: Eine Frau nimmt mich mit und bringt mich in Sulden bis vor das Hotel. Herzlichen Dank!
Mit der Wahl des heutigen Stützpunktes habe ich Glück gehabt: Mein Zimmer im  Hotel Mignon ist modern und sehr groß, der Balkon hat Tal- und Ortlerblick. Da ich recht früh da bin kann ich nach der obligatorischen Klamottenwäsche einfach auf dem Balkon sitzen oder auf dem Bett liegen. Houston Mission Control hat mir zudem Halbpension gebucht. Das erweist sich als Volltreffer, das Essen ist so ausgezeichnet wie die Speisefolge verheißt.

Glück des Tages: Dass ich heute überhaupt losgekommen bin und am Abend das tolle Essen vertragen habe.

Gelaufen: 13,8 Kilometer  
Bergauf: 651 Hm  
Bergab: 245 Hm  
Höchster Punkt:  Kurz vor Stilfs  (1.420m)
Übergänge: keine
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...