Donnerstag, 7. Juli 2022

40. Tag: 03. Juli 2022 Wolkenstein in Gröden - Bozen

Frühstücksbuffet in einem schicken Hotel, da lacht das Fernwandererherz. Ich greife beherzt zu, vor allem den Obstsalat und den genialen Schinken nehme ich mehrmals nach.
Zum Abschied erkundigt sich die Hotel- Chefin ausgiebig nach meiner Tour und drückt mir dann noch die SüdtirolCard in die Hand, Eintrittskarte in das perfekte Südtiroler Nahverkehrsnetz. 
Die Karte kann ich gleich anwenden, denn ich fahre mit dem Bus wieder talwärts, nicht bis nach St. Ulrich, sondern nur bis nach St. Christina. Heute ist Sonntag, und die Busse sind stark nachgefragt; selbst Zwischenbusse sind brechend voll mit Wanderern. Wo die wohl alle hinfahren?
Zur Talstation des kleinen Monte Pana- Sessellifts jedenfalls laufe nur ich.
Die Fahrt mit der betagten Bahn von St. Christina hinauf an den Fuß der Seiser Alm hat etwas Entschleunigendes, und ich genieße die 10 Minuten in vollen Zügen.
An der Bergstation hat mich dann die Grödner Tourismuswelt wieder: Ein üppig dimensionierter Parkplatz, eine weitere Richtung Langkofel hinaufführende zweite Bahn mit deutlich mehr Kapazität, mehrere E-Bike- Verleiher und natürlich jede Menge Leute, meistens Italiener.
Nach Saltria, dem Mittelpunkt der Seiser Alm, führen zwei in etwa gleich lange Wege. Ich nehme den, der auf der unübersichtlichen Panoramakarte aussichtsreicher erscheint, und wandere los. Zunächst führt mich die Schotterstraße an einem Nordischen Skizentrum vorbei mit zwei Sprungschanzen, dann führt sie ordentlich Bergauf. Am Ende der Steigung zeigt sich, dass sich die Mühe gelohnt hat: Der Langkofel steht fast über mir, und auf der anderen Seite öffnet sich der Blick über die Wiesen der Seiser Alm bis hin zum noch fernen Schlern mit seinem markanten Profil.
Eine Stunde später stellt sich mir eine vielbeinige Sperre in den Weg; als Ortsfremder will ich keinen Ärger mit den Einheimischen und schlage einen großen Bogen über die Wiese.
Saltria liegt ungefähr am tiefsten Punkt der Alm, bis hierhin ging es eine zeitlang herunter, nun also wieder aufwärts, zunächst über eine Asphaltstraße. Nach 200 Metern zweigt dann aber der Wanderweg von der Straße ab und führt abwechslungsreich trassiert durch die Almlandschaft wieder in die Höhe. Ein wenig erinnert der Steig an das Allgäu; aber nur wenn man sich nicht umdreht, denn der Langkofel hinter mir steht definitiv nicht im schwäbisch- württembergischen Alpenvorland. 
Ich kann mich nicht sattsehen an dem mich umgebenden Panorama, und setze mich später ganz bewusst eine halbe Stunde auf eine Bank, nur um den Langkofel anzuschauen.
Je näher ich den Häusern von Compatsch komme, desto mehr treten der Schlern und die ihm vorgelagerte Santnerspitze in den Mittelpunkt, eines der Wahrzeichen Südtirols.
Eine Gruppe Amerikaner kommt mir entgegen. Sie schauen mich an, sehen mein Basecap mit dem großen 'B' und rufen mir ein vielstimmiges "Go Sox!" zu. Ich antworte mit einem Lachen und Daumen hoch. Wenn ich im Spätsommer nach Hause komme, sind die BOSTON RED SOX hoffentlich noch in den Baseball- Playoffs dabei.
In Compatsch schlägt das Herz der Alm: Hier ist die Bergstation der wichtigsten Seilbahn, hier sind Geschäfte und Hotels, und hier endet auch die öffentliche von Kastelruth heraufführende Straße und mündet direkt in einen Großparkplatz mit 20,- Euro Tagessatz. 
Heute ist hier zudem das Ziel des Seiser Alm- Marathons. Jedoch sind wohl schon alle angekommen, denn die Helfer packen und räumen bereits alles zusammen.
Ich nehme ab Compatsch die Gondelbahn hinunter nach Seis. Die runden Kabinen sind schon etwas mitgenommen, man kann von lauter Kratzern in den Scheiben kaum hinausschauen. 
Unten angekommen ist es schlagartig gefühlt 10 Grad wärmer. Direkt vor der Station beginnt der Weiterweg nach Völs und biegt zum Glück direkt in den Wald.
Interessanterweise scheint sich mit dem Verlassen des Grödnertals und der Seiser Alm das Urlauberpublikum vollständig gewandelt zu haben, denn mir kommen bis Völs statt vieler Italiener nur noch Deutschsprachige entgegen.
Ohne größere Steigungen bringt mich der Weg in anderthalb Stunden zum Völser Weiher. Hier ist richtig was los, am Badeplatz herrscht sonntägliches Badevergnügen, und es scheint keinen freien Quadratmeter mehr zu geben. Natürlich lockt der kleine See, und ich blicke neidisch auf die Badenden. Aber mit meinem Hausstand auf dem Rücken einschließlich Bank, Fernmeldeamt und Fotostudio kann ich mich kaum an einen Strand legen und gelassen baden gehen.
Also geht es weiter, den Hügel hinunter bis nach Völs, noch gut bekannt aus dem letzten Südtirol- Urlaub eben hier. Ich gehe durch den hübschen Ort mit der grandiosen Kulisse, aber es ist irgendwie ein komisches Gefühl, wenn man vorher mit der Familie hier war. 
Also weiter. Bevor ich mich aber an den Abstieg ins Eisacktal mache, drehe ich noch eine kleine Extratour über den Völser Rundweg. Dieser bietet nicht nur einen wunderbaren Blick ins Tal, sondern mit der Hofschank Pitschelmann ein famoses Gasthaus. Hier lasse ich mich unter Weinranken zu meiner zweiten Pause heute nieder und esse eine leckere Pizza mit Hirsch- Salami.
Danach wird es noch einmal interessant,  wollen doch noch fast 500 Höhenmeter bis hinunter zum Eisack abgebaut werden. In gleichbleibendem Gefälle geht es talwärts, der Weg führt bis unten ohne jede Aussicht nur durch dichten Wald. Dass der Weg uralt ist, zeigen die tausenden von runden Steinen, die zu seiner Befestigung eingesetzt wurden und heute noch den Belag bilden. Dies war früher der Weg von Völs nach Bozen, bis andere bequemere Wege gebaut wurden. 
Mit jedem Meter Höhenverlust wird es wärmer und die Autobahn lauter, bis der Weg schließlich ganz unten auf die alte Trasse der Brennerbahn trifft, die nach dem Bau des Schlerntunnels heute als Radweg genutzt wird. 
Hier führt die uralte Steger Brücke über den Eisack, eine gedeckte Brücke im Stil der Covered Bridges in Neuengland. Es ist ein tolles Gefühl, diese Brücke zu begehen: Sie fühlt sich alt an und riecht auch so, ein echtes Kleinod zwischen so vielen modernen Brücken; zum zweiten rauscht der Fluss unter ihr, aber man kann ihn nicht sehen, zum dritten und für mich am wichtigsten: Die Überquerung des Eisack markiert das Ende des Dolomiten- Abschnitts meines Weges.
Gerade als ich auf der anderen Seite aus der Brücke trete, fährt ein Linienbus vorbei. Wie sich sofort zeigt, war es außerordentlich leichtsinnig, nicht in den Fahrplan geschaut und auf enge Fahrtintervalle gehofft zu haben: Sonntags herrscht im Eisacktal Stundentakt. Leider ist rund um die Bushaltestelle außer der schon besichtigten Brücke überhaupt nichts zu sehen, denn sowohl das Wirtshaus als auch die Tankstelle haben zu.
Was nun? Lösung: Daumen raus; Trampen ist  in Italien zwar verboten, aber was solls, solange nicht gerade jetzt übereifrige Carabinieri vorbeifahren...
Es braucht exakt 10 Autos, und schon hält eines an: Drei junge Burschen sind auf der Heimfahrt von einem Klettertag im Grödnertal. "Fahrt Ihr nach Bozen?" "Klar, steig ein." Während der Fahrt unterhalten sich die drei mit einer Mischung aus Deutsch und Italienisch,  sie sind in der Lage, sogar innerhalb eines Satzes die Sprache zu wechseln; das ist für mich faszinierend zu hören, aber natürlich weitgehend unverständlich.
Ich werde netterweise bis zum Bozener Bahnhof gebracht. Hier kann ich nun mangels Ortseingangsschild das Etappenfoto machen.
Eine kurze Runde drehe ich natürlich noch durch die abendliche Altstadt, Bozen ist einfach zu schön.
Danach nehme ich den Bus der Ringlinie 10, der mich zu meinem Hotel in der Industriezone bringt. Dieses trägt den Namen "B&B Bed & Breakfast", jedoch ist entgegen dieses Namens das Frühstück nicht inkludiert und muss extra bezahlt werden. Egal.
Ich setze mich zum Ausklang dieses herrlichen Tages noch eine Stunde an einen Tisch auf der kleinen Kunstrasenfläche vor dem Hotel und konsumiere aus dem Automatenbestand des Hauses zwei Heineken (alternativlos) und eine Tüte Chips. Dann falle ich ins Bett.

Glück des Tages: Die halbe Stunde vis à vis vom Langkofel

Gelaufen: 22,7 Kilometer 
Bergauf: 630 Hm 
Bergab: 1.085 Hm 
Höchster Punkt:  Seiser Alm  (1.918m)
Übergänge: Eisack (Fluss)
Gipfel: keine 

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...