In der Schlüterhütte hängt ein schönes altes Foto von Dresden, "Heimatstadt des Kommerzienrats Franz Schlüter, Sponsor und Erbauer der Schlüterhütte." Diese Erinnerung freut mich sehr, nicht nur als Freund der sächsischen Hauptstadt. Ich kann mich nicht erinnern, ob dieses Bild auch schon da hing, als die Hütte noch unter der Regentschaft des CAI stand; nun gehört das Haus wie alle ehemaligen deutschen und österreichischen Hütten der Provinz Südtirol und nicht mehr dem italienischen Alpenverein.
Heute früh lasse ich mir Zeit, ich weiß auch nicht recht warum. So ist es schon dreiviertel neun, als ich mich von der Hütte verabschiede und endlich loskomme.
Zunächst muss ich ein ordentliches Stück auf einer Almstraße absteigen, um zum Anfang des Adolf- Munkel- Weges zu gelangen. Herrlich ragt die Geißlergruppe über mir auf. Die schroffen Wände werden mich heute den halben Tag begleiten, denn der Munkel-Weg führt genau unter ihnen entlang.
Für einen der bekanntesten Höhenwege der Dolomiten lässt ein Samstag natürlich kaum Einsamkeit erhoffen, jedoch scheinen die meisten der vor allem italienischen Mitwanderer nur bis zum Abzweig der Gschnagenhartalm zu gehen und sich dort der Einkehr zuzuwenden. Jedenfalls bin ich nach dem Abzweig wieder weitgehend alleine.
Inzwischen hat sich auch die Frage geklärt, wo ich heute schlafe. Gestern hatte ich drei Pensionen und Hotels angemailt, die auf ValGardena.it vakante Zimmer für heute Nacht anboten. Ein Hotel hatte eine Antwort offenbar nicht nötig und eine Pension bietet einen von der Offerte völlig abweichenden Preis; wie gut dass die Kommunikation mit dem Hotel "Else" in Wolkenstein freundlich und absolut reibungslos verläuft.
An der Broglesalm endet der Munkel-Weg, und hier wollte ich eigentlich auch einkehren. Jedoch ist jede Bank besetzt, so dass ich erst etwas oberhalb auf einem großen Stein eine Trinkpause einlege. Auch wenn die Geißlergruppe hier bereits nur noch in der Rückschau zu sehen ist, ist die Aussicht erneut gigantisch.
Mein nächstes Ziel ist die Flitzerscharte über dem Villnößtal, Übergang zur Raschötz, einem - wie sich bestätigen wird - Aussichtsberg der Extraklasse.
Über weite Almwiesen gelange ich dorthin, mit jedem Meter öffnet sich der Blick jenseits des Grödnertals weiter auf die Seiser Alm, den Schlern, Langkofel und Sella, das ist ein Dolomitenblick wie er im Südtirol- Buche steht. Dazu stellen sich wie vom Touristenbüro bestellt jede Menge Kühe und auch ein paar Esel in den Vordergrund.
An der Scharte geht der Blick dann auch ins Eisacktal hinunter. Es ist ein tolles Gefühl, unten die Brennerautobahn zu sehen.
Der nun folgende Weg ist sehr angenehm trassiert und ermöglicht ein zügiges Vorankommen. Bald kommt der Gipfel des Ausserraschötz mit seinem großen geschnitzten Gipfelkreuz in den Blick. Dieses trägt einen grotesk gestorbenen Jesus, ein sehr gewöhnungsbedürftiger Anblick auf einem Berg.
War der Ausblick Richtung Dolomiten bis jetzt schon fantastisch, kommt nun noch das Panorama der vergletscherten Zillertaler Alpen und der Tiefblick nach Brixen hinzu; Richtung Westen zeigt sich hinter den Sarntaler Alpen der Vinschgau, mein Arbeitsfeld der nächsten Woche. Das ist in Summe einfach nur sensationell.
Eine Viertelstunde sitze ich mit zwei Pärchen, die sich auf dem weiten Gipfel verteilt haben, ganz alleine; alles ist still.
Dann nähert sich lautstark eine geführte Großwandergruppe, und angesichts des vielfachen Gipfelsieges einschließlich Gruppenfoto ist es vorbei mit der erhabenen Stimmung.
Ich nehme fluchtartig Reißaus. Meine Abstiegsroute kommt bald an der kleinen und außerordentlich schlichten Bergkapelle vorbei. Hier zweigt auch der Weg nach Lajen ab, das in einiger Entfernung vor und unter mir liegt. In der ursprünglichen Etappenplanung hätte ich dort noch hinlaufen sollen; nun bin ich froh, dass diese zweieinhalb Stunden heute nicht noch auf dem Programm stehen.
Statt dessen spaziere ich in entgegengesetzter Richtung zur Raschötzhütte hinüber und mache dort das klassische Bild: Hütte vorn, Langkofel und Sella hinten.
Eine halbe Stunde später habe ich die Bergstation der Standseilbahn nach St. Ulrich erreicht. Spektakulär steil geht es hinab, allein die Fahrt ins Tal ist ein Erlebnis.
St. Ulrich empfinde ich als unerwartet städtisch. Ich habe einen Ort wie Badia erwartet und stehe nun inmitten einer Innenstadt- Fußgängerzone, nur mit Eisdielen, Sport- und Holzschnitzer- Geschäften sowie Edel- Boutiquen. Den SPAR-Markt auf dem Weg zur Bushaltestelle nutze ich zum Kauf meines Abendessens, dann nehme ich den Bus das Grödnertal hinauf nach Wolkenstein.
Die letzten Schritte des Tages bringen mich zum Hotel, wo mich die sehr freundliche Chefin mit Namen begrüßt. Mein Zimmer ist klein, hat aber alles was ich brauche zum Duschen, Wäsche waschen und auf dem Balkon zu Abend zu essen.
Während ich dies aufschreibe, fällt mir auf, dass ich heute unterwegs außer einem langen Telefonat mit Houston Mission Control mit niemandem gesprochen habe. Das war in den davor liegenden 38 Tagen ausgesprochen selten.
Glück des Tages: Das atemberaubende 360-Grad- Panorama vom Gipfel, vor allem der Blick auf die Zillertaler Alpen.
Gelaufen: 22,2 Kilometer
Bergauf: 726 Hm
Bergab: 929 Hm
Höchster Punkt: Schlüterhütte (2.306m)
Übergänge: Broglesscharte, Flitzerscharte
Gipfel: Außerraschötz