Frühstück gibt es in der Seekofelhütte erst ab 7 Uhr. Da ich heute jedoch einen sehr langen Weg vor mir habe, ist mir jede halbe Stunde wichtig; so starte ich ohne morgendliche Stärkung und bin um 7 Uhr schon unterwegs in diesen sonnigen Tag.
Mein Ziel ist das über dem Abteital und Alta Badia gelegene Heiligkreuz-Hospiz; hier hatte ich gestern noch per Mail eine Übernachtung angefragt und heute früh eine Zusage bekommen.
Die bald hinter mir zurückbleibende Seekofelhütte liegt nicht in Südtirol, sondern knapp in Italien, den Wiedereintrit in die Autonome Provinz markiert ein Schild "Naturpark Fanes Sennes Prags", das ich 10 Minuten nach dem Start passiere. Der Wanderweg führt über offene Almwiesen bei herrlichem Ausblick bis zur Senneshütte, die ich nach einer knappen Stunde erreiche.
Die zweite Wanderstunde verläuft durch viele Latschen etwas weniger aussichtsreich. Hier kommen mir zwei Wandergruppen amerikanischer Jugendlicher entgegen; gestern beim Abendessen hatten mir die beiden Südtirolerinnen erzählt, dass sehr viele Amerikaner in diesem Jahr in den Dolomiten unterwegs seien.
Das nächste Almdorf ist das in einer Mulde gelegene Fodara Vedla, bestehend aus vielen kleinen Almhütten, einer Kapelle und einem größeren Gasthaus. An einem Brunnen fülle ich mein Wasser nach und genieße die völlige Ruhe hier. Außer Kuhglocken ist so früh am Tag nichts zu hören, herrlich.
Leider folgt nun ein Abstieg um 500 Höhenmeter hinab zur Pederü im Rautal. Eine steile serpentinenreiche Schotterstraße führt dort hinab, kunstvoll gebaut in den 60er Jahren auf den Resten einer alten Kriegsstraße. Hier sind die E-Bike-Ritter in ihrem Element, es scheint jedoch auch für sie so anstrengend, dass wie immer für ein Grüßen keine Gelegenheit ist und einige tatsächlich schieben. "Na, Strom schon alle?" frage ich einen der abgestiegenen Mofaradler. "Nein, aber das ist so steil hier, dass ich oben bald keinen Strom mehr habe, wenn ich hier alles verbrauche" lautet die Antwort. Na ja, vielleicht ist ja auch das Ziel zu ambitioniert...
Das Rautal mit seinen steilen Wänden, das beim Abstieg an vielen Stellen einzusehen ist, erinnert stark an einen amerikanischen Nationalpark, darüber leuchten die Gletscher der Stubaier Alpen.
Unten in Pederü mit seinem Parkplatz hat der beschauliche Teil der Vormittags sein Ende, hier ist richtig Betrieb.
Ich reihe mich ein in die vielen Wanderer, die hinauf zur Fanesalm wollen. Eine bestimmt 20köpfige Gruppe Franzosen läuft ungefähr parallel zu mir, und wieder kommen mir viele Amerikaner entgegen. Hatte meine heutige Wanderung bislang einige Schattenpartien, geht es nun durch die pralle Sonne, die vom hellgrauen Kalkschotter noch zusätzlich reflektiert wird. Das macht überhaupt keinen Spaß, auch weil es in diesem Tal an optischer Abwechslung und Ablenkung mangelt. Zähne zusammenbeißen ist die Devise.
Endlich gabelt sich der Weg, die Alm ist erreicht: Links sind es 10 Minuten bis zur Faneshütte, geradeaus 10 Minuten bis zur Lavarellahütte. Ich wähle geradeaus und erreiche das oberhalb eines teichartigen Baches gelegene Gasthaus.
Hier kann ich nun endlich mein Frühstück nachholen, Brunch um halb eins. Es gibt phantastische Kasnockerln und Kaiserschmarrn, dazu ein unglaublich leckeres alkoholfreies Lagerbier vom Simssee.
Nach dieser Pause beginnt der Ernst dieses Tages. Kaum ein Wanderer geht über die Lavarellahütte hinaus, entsprechend wild und zum Teil verwachsen ist der Steig. Einmal verhatsche ich mich in einem Feld größerer Felsbrocken und komme vom Weg ab; das scheint jedoch schon einigen anderen vor mir passiert zu sein, denn einzelne Steinmänner helfen bei der Orientierung, bis der richtige Weg wieder in den Blick kommt.
Nach dieser Felszone lasse ich die Latschenbereiche hinter mir, und es beginnt eine rauhe Berglandschaft mit großen flachen Kesseln und spärlicher werdendem Bewuchs. Leider hat es sich nun ziemlich abrupt zugezogen, weiße Schönwetterwolken sind zu grauen Flächen am Himmel mutiert, und bald ist der erste von mehreren Donnern zu hören.
Was nun? Ich bin eine Dreiviertelstunde unter der Scharte, und vor allem eine gute Stunde unterwegs, seit ich die letzten Bäume passiert habe. Richtig Deckung gibt es hier nicht, Almstadel sind auch Fehlanzeige. Zunächst fängt es ersteinmal an, kräftig zu regnen, dann prasseln Hagelkörner auf den Poncho.
Zwei Frauen kommen mir entgegen. "Steigen Sie nicht ab?" fragen sie. Nein, wohin? Ob ich hier in der Senke stehen bleibe, in die ich mich zurückgezogen habe, oder über die ganzen Buckel und Felsbrocken einen langen und mindestens gleich exponierten Rückzug antrete, bleibt sich gleich. Hier in den Senken, jedoch nicht ganz unten, fühle ich mich verhältnismäßig sicher.
Ich beobachte das Wetter so genau wie es mir möglich ist: Die Donner scheinen nicht mehr näher zu kommen; und die dunklen Wolken sammeln sich von mir aus rechts am Heiligkreuzkofel, dem höchsten Gipfel ringsum, und scheinen dann hinter mir weiterzuziehen. In Richtung "meiner" Scharte wird es dagegen heller, bald sind auch erste blaue Flecken zu sehen, und den Poncho kann ich auch zuerst wieder öffnen, dann verstauen. Dafür ist es hinter mir über dem Tal von Fanes und Lavarella nun sehr dunkel, es donnert häufig. Hoffentlich ist den beiden Damen im Abstieg nichts widerfahren, sie sind genau in das Epizentrum marschiert...
Dann kommt die Sonne zwischen den Wolken hervor, und ich kann guten Gewissens weiterlaufen. Als mir ein Schild nur noch fünf Minuten bis zur Scharte anzeigt, bin ich freudig überrascht. Noch eine Kurve, eine letzte dieser flachen Senken, und ich bin oben an der Forcella de Medesc. Beziehungsweise stehe am Abgrund, denn die Landschaft ändert sich schlagartig. Ich blicke hinab in ein steiles Schotterkar, das weit hinuntergeht bis in die Latschenzone. Von jenseits des tief unten liegenden Abteitals grüßen ziemlich wolkenverhangen die Sella und die Puezgruppe herüber.
Ein Pärchen hat gerade die Scharte erreicht und geht grüßend vorüber. Ich bleibe hier auch nicht lange stehen und beginne den Abstieg.
Ich hatte in meiner Planung bewusst diesen Abstieg ausgewählt und nicht den zwar näher an meinem Etappenziel liegenden, jedoch deutlich steileren und trotz Sicherungen schwieriger zu begehenden Steilweg über das Nachbarjoch. Dies wäre jetzt nicht nur deutlich anstrengender, sondern wegen der Metallsicherungen auch gefährlicher.
Der Abstieg macht es mir leicht: Ich kann über die vielen kleinen Schotterbrocken abfahren, fast wie ein Skifahrer, und so ziemlich einfach und schnell einige hundert Höhenmeter abbauen.
Eine gute halbe Stunde später habe ich den Wald erreicht, hier wäre ich nun sicher, wenn noch einmal ein Gewitter auftauchen würde.
Eine Stunde muss ich nun noch auf gleicher Höhe bleibend durch den Wald laufen, dann stehe ich vor der auf 2.000 Metern Höhe gelegenen Wallfahrtskirche und dem daneben stehenden altehrwürdigen Heiligkreuz-Hospiz.
Der lange Tag hat geschlaucht, ich bin fix und fertig, körperlich und mental leer. Eine heiße Dusche lässt die Welt zum Glück bald anders aussehen, und auch dass ich nur mit einem anderen Gast in einem Viererzimmer schlafe, bessert die Laune sichtlich. Es ist Christoph aus Kevelaer, etwa mein Alter, der mit seinem Mountainbike ein Nord- Süd- Alpenquerung macht. Wir unterhalten uns gut über die Zicken des Älterwerdens beim Bergsport - es ist schwieriger als noch vor sechs oder sieben Jahren, da sind wir uns einig.
Zum Abendessen bestelle ich mir eine leckere Gemüsesuppe und Spaghetti Bolognese, bei denen der al dente- Grad so perfekt ist, dass ich das nur mit Stoppuhr kochen könnte.
Dabach begeben wir uns zur Ruhe. Um 21 Uhr wird dann das WLAN abgeschaltet, wohl damit auch wirklich Ruhe ist.
Glück des Tages: Bei der Einschätzung des Gewitters richtig gelegen zu haben.
Gelaufen: 29 8 Kilometer
Bergauf: 1.361 Hm
Bergab: 1.622 Hm
Höchster Punkt: Forcella de Medesc (2.537m)
Übergänge: Forcella de Medesc
Gipfel: keine