Mittwoch, 1. Juni 2022

6. Tag: 30. Mai 2022 Fischerhütte- Otto-Schutzhaus


In meinem Zimmerlager werde ich gegen 5 Uhr wach und schaue prüfend aus dem Fenster: Nicht nur der Nebel hat sich verzogen, ich bin auch genau pünktlich für die ersten Sonnenstrahlen: Leicht Orange ist der frische Schnee gefärbt. Danach schlafe ich noch einmal eine Stunde tief und fest.
Der Heldenhaftigkeit des Alpinismus stehen die Frühstückszeiten entgegen: Eigentlich gibt es das hier oben "frühestens um halb acht". Dass ich doch schon um 7 Uhr Kaffee und etwas zu Essen bekomme ist allein dem freundlichen Entgegenkommen des ungarischen Kochs zu verdanken.
Heute steht mir ein langer Tag bevor: Erst geht es anderthalb Höhenkilometer hinab zum Weichtalhaus im Höllental, danach muss ich auf der anderen Seite wieder hinauf auf die Hochfläche der Rax. Dort hinauf führt mit dem versicherten Wachtlhüttenkamm-Steig eine direkte Route vom Weichtalhaus, jedoch ist die als "bei Nässe gefährlich" beschrieben, dazu weist das Wetter zum Nachmittag hin wieder Regentendenz auf  Also muss eine Alternative her, und ich fand sie gestern Abend in einem Buch über die Rax: Der Törlweg ist als reiner Wanderweg technisch einfacher und wetterunabhängiger, und auch er kommt direkt am Otto-Schutzhaus raus. Um zu seinem Einstieg zu gelangen muss ich jedoch ein paar Kilometer Bus fahren; der einzige Kurs untertags fährt jedoch schon um halb 12 am Weichtalhaus ab, also muss ich mich ein wenig sputen, und daher auch die Bitte um ein frühes Frühstück.
Um Viertel vor acht verlasse ich die Fischerhütte und trete hinaus in einen Wintertag. Der frische Schnee ist herrlich anzuschauen und glitzert in der Morgensonne. 
Mein Weg geht gut erkennbar hinüber zum Klosterwappen, höchster Gipfel des Schneebergs, ausgestattet mit einem Gipfelkreuz und einer unansehnlichen Sendeanlage.
Kurz muss ich noch einmal das GPS-Gerät zu Rate ziehen um den richtigen Einstieg zu finden, dann steige ich durch den Schnee auf dem ohne Schwierigkeiten erkennbaren Weg bis zum Beginn der Latschenzone hinunter, die auch die Schneegrenze bildet. Es ist totenstill, der starke Wind, der mich seit Tagen begleitete, hat abgeflaut; dabei ist es in der Sonne trotz des Schnees so warm, dass ich die Fleecejacke bald im Rucksack verstauen kann.
In den eng stehenden Latschen sind die Zweige klitschnass, das macht es stellenweise unangenehm. An mehreren Stellen erkenne ich frische Trittsiegel von Gamswild, die Kollegen habe ich wohl aufgemüdet; zu Gesicht bekommen ich jedoch keine.
Die Latschen werden abgelöst durch Fichten und Lärchen, dann - je tiefer ich gelange - durch Buchen und andere Laubbäume. An der geschlossenen Kienthalerhütte komme ich vorbei, ignoriere den Abzweig in die Weichtalklamm und stehe schließlich um 10 vor 11 vor dem Weichtalhaus in der Schlucht des Höllentals zwischen majestätischen Felswänden.
Der lange Abstieg hat mir die ersten Blasen der Tour beschert, jedoch nicht an den Füßen sondern in der Handfläche von den Wanderstöcken; ansonsten fühle ich mich ok, auch die neuen Wanderschuhe machen sich gut.
Ich bin so früh dran, dass ich mir dort noch eine Cola genehmige. Zufällig kann ich da auch einen anwesenden Bergführer nach seiner Meinung zum Wachtlhüttenkamm befragen, und er würde den Steig heute auch eher nicht gehen.
Der Bus ist pünktlich und bringt mich auf der Straße schluchtauswärts am Wasserwerk der Wiener Trinkwasserversorgung vorbei bis nach Hirschwang. Von hier aus ist noch einmal der Gipfel des Klosterwappen zu sehen, scheinbar unerreichbar weit oben; kaum zu glauben, dass ich vor gut dreieinhalb Stunden noch da oben stand.
Der Einstieg zum Otto-Schutzhaus ist schnell gefunden und führt ohne Höhepunkte über Forststraßen und Waldwege bergan. Mein Ziel ist bald hoch oben erkennbar. Das ist noch ein gutes Stück dort hinauf, aber ich lasse mir nach dem anstrengendem Abstieg viel Zeit; es ist schließlich erst kurz nach Mittag und weiter als zur Hütte muss ich nicht mehr.
An der Quelle des Lammel- Brünnls von 1905 kann ich meine Wasservorräte noch einmal auffüllen, die daneben stehende Bank nutze ich für eine ausgiebige Pause.
Der Steig wird nun unterhaltsamer und bietet bald schöne Aussichtspunkte, zieht sich am Ende jedoch etwas. 
Fast schon erlösend taucht dann unvermittelt nah über mir das Schutzhaus auf, es ist geschafft.
Zum Schluss bietet der Steig noch ein echtes Schmankerl und führt durch ein kleines Felstor hindurch, Namensgeber für den Törlweg.
Vor der Hütte flattert die Fahne im wieder aufgefrischten Wind, ansonsten steht die altehrwürdige Hütte einsam vor mir. Auch im Innern ist alles wie ausgestorben, weder Gäste noch Belegschaft sind zu sehen. Was mich verwundert: Die Theke ist als 80er Jahre- Selbstbedienungsrestaurant gestaltet und steht damit in fast groteskem Gegensatz zum historisch erhaltenen Ambiente des Hauses. Schön ist anders.
Ich muss jedoch nicht lange in dieser Bausünde ausharren, denn eine freundliche Bedienung mit ungarischen Zungenschlag nimmt sich meiner an: 
Es wäre nur ein weiterer Übernachtungsgast da, ich hätte also ein Lager für mich alleine - Bingo!
Ich kann mich ausbreiten und nutze den Rest des Nachmittags für eine sehr ausgiebige heiße Dusche und zum Durchwaschen diverser Klamotten.
Beim Abendessen treffe ich meinen Mit- Übernachter: Stefan aus Wien, der einen längeren Urlaub mit einigen Tagen auf der Rax beginnt. Nach dem vom Koch nepalesischer Provenienz hervorragend zubereiteten Essen sitzen wir für einige Stunden vor den großen Fenstern mit prächtigen Ausblick ins Tal und die Ferne. Es ist erstaunlich kalt in diesem Speiseraum, der Kachelofen bleibt merkwürdigerweise aus, dafür stellt der Koch einen Baustrahler auf, der dann schließlich doch für wohlige Wärme, jedoch auch für eine unheimelige akustische Untermalung sorgt.
Dennoch: Während draußen der Tag zur Nacht wird, entwickelt sich zwischen uns ein sehr angeregtes Gespräch, das schließlich erst von der Hüttenruhe abgebrochen wird.

Glück des Tages: Vor dieser Etappe hatte ich im Vorfeld gehörigen Respekt wegen des immensen Höhenunterschieds; bergab immerhin etwa 1,5 Prozent der gesamten Abstiegsleistung der Tour. Aber mein Körper hat das problemlos gemeistert.

Gelaufen:  17,8 Kilometer 
Bergauf: 1.187 Hm
Bergab: 1.558 Hm
Höchster Punkt: Hochschneeberg/ Klosterwappen (2.076m)
Übergänge: Keine 
Gipfel: Hochschneeberg/ Klosterwappen

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...