Dienstag, 28. Juni 2022

31. Tag: 24. Juni 2022 Valentinbachtal - Hochweißsteinhaus

So gut mein Zelt nach dem Workshop auch stand: Wenn ich im Zelt zu weit unten liege und im Schlaf noch weiter runter rutsche, drückt irgendwann der Schlafsack das Innen- gegen das Außenwelt und wird feucht. Nicht schlimm, aber ärgerlich. 
Wir packen in der Morgendämmerung unsere Siebensachen zusammen und rücken um kurz vor sechs ab. Kaum gestartet geht die Sonne auf.
Der Weg durch das Valentinbachtal wird zunehmend steinig und führt dann über grobe Blöcke und Felsbrocken hinein in einen wuchtigen Talkessel mit himmelhohen Wänden. Noch etwas weiter oben liegt das Valentintörl.
Ich bin wieder das Schlusslicht unserer Gruppe, sehe aber dadurch als Einziger eine Gams fast auf gleicher Höhe gegenüber in ein Schotterfeld einwechseln; wie immer wenn ich Gamsen sehe ein tolles Erlebnis. 
Hinter mir zieht eine dichte Nebelbank das Tal hinauf, die entfernt an John Carpenters THE FOG erinnert, mich aber nicht einholt.
Oben am Valentintörl wartet Benedikt auf mich. Wir steigen zusammen hinab zum Wolayersee und zur direkt oberhalb des Wassers stehenden gleichnamigen Wolayerseehütte. Sie ist das Wahrzeichen des Karnischen Höhenwegs, kein Bericht über ihn kommt ohne ein Bild dieser Hütte aus.
Unsere Hoffnung, dort frühstücken zu können, erfüllt sich nicht: Bis halb acht hätte es das Frühstück für die Übernachtungsgäste gegeben, so die resolute Chefin, und etwas zu Essen für andere gäbe es erst ab 11 Uhr. Jetzt müssten die Zimmer und Lager gerichtet werden, da wäre keine Zeit für irgendetwas anderes. Unser vorsichtiger Verweis auf "Schutzhütte" und "Alpenverein" wird  kurz und bündig mit "Unverschämtheit" beantwortet. Es sind schon komische Leute, die hier am Karnischen Höhenweg die Hütten führen, und wir haben wie sich zeigen wird noch längst nicht alles erlebt.
Für uns hungrige Frühaufsteher ergibt sich trotzdem noch eine Lösung: Apfelstrudel von gestern gibt es noch im Angebot. Ich ordere zwei Stücke, dazu Cola als Kaffee-Ersatz. 
Während wir auf der Terrasse mit herrlichem Seeblick essen, steht der Koch bei uns draußen, raucht und unterhält sich mit uns; er hätte also gute Gelegenheit gehabt, eine Kleinigkeit anzurichten, mit seiner Chefin will er sich jedoch nicht anlegen.
Lange bleiben wir nicht an diesem Ort und verlassen die stattliche Hütte, überqueren das direkt daneben liegende Birnbaumer Törl und steigen weit hinab zum Wiesengrund der Wolayer Alm, die im Talkessel vor einer sie fast im Halbrund überragenden Felswand steht. 
Jenseits der Almweiden führt unser Steig zu Füßen dieser Felswände entlang, bis sich eine Möglichkeit ergibt, über einen steilen Wiesenhang an ihr vorbei hinauf zum Grat zu kommen. Dieser Pfad durch die Steilwiese ist unbarmherzig: Es geht ohne Kompromisse nach oben, etliche Kehren sowie Wegstücke in Falllinie sind zu bezwingen, bis wir schließlich oben am Giramondopass stehen und die Grenze nach Italien passieren. 
Hinter den an diesen Übergängen unvermeidlichen Kriegsruinen machen wir kurz Pause, dann wandern wir durch ein Schotterfeld zu Füßen hoher Felswände und oberhalb eines schönen Sees entlang.
An der Sella Sissanis und ihrem kleinen Weiher beginnt der lange Abstieg in ein Hochtal bis hinunter zu einer halb verfallenen Alm. Hier grast munter blökend eine Schafherde, während der Schäfer dauertelefonierend auf einem Mauerrest sitzt und ins Tal schaut. 
Da hier der lange Schlussanstieg beginnt, machen wir noch einmal Pause. Ob das Wetter trotz aller Wolken hält? Die schwierigen Passagen liegen jedenfalls hinter uns.
Über die nun folgenden 500 Höhenmeter zum Öfner Joch, weitgehend auf einer alten nun als Almfahrweg genutzten Kriegsstraße gibt es nicht viel zu berichten, außer dass ich mich eisern an Benedikts Fersen hefte und die anderthalb Stunden stoisch hinter ihm her marschiere. 
Oben sind wir wieder in Österreich und sehen das Hochweißsteinhaus nur noch wenige Minuten entfernt unter uns. 
Nun schlägt jedoch das Wetter um beziehungsweise zu und öffnet die Schleusen der grauen Wolken; ich kann den Poncho gar nicht schnell genug anziehen, so sehr gießt es nun.
"Das hätte jetzt nicht mehr sein müssen" denke ich laut, während ich mit hohem Gehtempo auf die Hütte zumarschiere.
Das Hochweißsteinhaus ist eine altehrwürdige Hütte, ein schönes Haus mit einer herrlichen Holztreppe innen und einer behaglichen Gaststube.
Ein alkoholfreies Gösser und eine Polenta mit Speck stillen unsere dringendsten Bedürfnisse, unsere Übernachtung sei auch kein Problem. So weit so gut.
Doch hinter dem schönen Schein erkennen wir bald die andere Seite des Hochweißsteinhauses: War die Preisgestaltung in der Zollnerseehütte ein Ärgernis, sind wir nun untergekommen in der Mutter aller Abzocke:
Duschmarken für zwei Minuten Wasser werden mit 3,50 Euro berechnet. Handyaufladen mit Zeitlimit kostet 1 Euro.
Im Waschraum hängt ein Zettel mit dem Hinweis auf Kolibakterien im Wasser, Trinkwasser könne an der Theke erworben werden. Kolibakterien im Wasser einer Gast- und Beherbergungsstätte? Das müsste eher ein Fall für die Gewerbeaufsicht sein; die mit dem Zettel geschürte Unsicherheit ist daher wohl eher ein Verkaufsargument.
Das Münztelefon - Mindesteinwurf 1 Euro - beginnt schon zu "zählen" während des Wählens und der Herstellung der Verbindung; Benedikt benötigt so mehr als 4 Euro für ein kurzes "Mir geht's gut" nach daheim. Wahrscheinlich ist ein Gespräch mit der ISS kaum teurer.
Natürlich gibt es hier auch ein vergleichsweise günstiges Bergsteigeressen und nicht nur eine 39 Euro teure Halbpension. Da für das Frühstück jedoch 15 Euro in Rechnung gestellt werden, wird wohl auch der letzte Bergsteigeressen- Besteller in die dann nur noch unwesentlich teurere Halbpension gepresst, und die gutgemeinte Alpenvereins- Institution ad absurdum geführt. 
In Summe ist dies ein Ausnutzen der Monopolsituation auf Biegen und Brechen. Auf allen anderen zum Teil ähnlich exponiert stehenden Hütten meiner bisherigen Tour ist mir so etwas noch nicht begegnet.
Man fragt sich, ob sich diese Gordon Gecko- mäßige "Gier ist gut"- Attitüde (aus Oliver Stones WALLSTREET) mit den Grundprinzipien des Alpenvereins verträgt. Die Satzung des OeAV beinhaltet immerhin den schönen Satz, dass "ausschließlich und unmittelbar gemeinnützige Zwecke verfolgt werden und Tätigkeiten nicht auf das Erzielen von Gewinn gerichtet sind". Nun ja...
Sollte jemand vom Hochweißsteinhaus oder von der hüttenbesitzenden OeAV-Sektion Austria hier mitlesen: Man könnte den Profit noch weiter steigern durch die entgeltliche Nutzung der Toiletten à la SANIFAIR oder mit einem gebührenpflichtigen WLAN, wie es Hotels oder Fluggesellschaften anbieten.
Das Hochweißsteinhaus bietet den Gästen im Gegenzug keinen Trockenraum, der als solcher zu bezeichnen wäre, der sei gerade im Aufbau. Schuhe, nasse Ponchos etc sind in einem Schuppen nebenan abzustellen, der energieintensiv mit einem elektrischen Wärmeaggregat notdürftig auf niedrige Zimmertemperatur erwärmt wird; immerhin gibt es ausreichend Zeitungspapier zum Ausstopfen. 
Eine Möglichkeit zum Trocknen meines Schlafsacks kann mir der Hüttenwirt nicht geben, vor allem nicht im Gastraum, das war ihm wichtig; darüber hinaus: Schulterzucken…
Zum Glück finde ich im Lager ein freies Bett, auf dem ich den Schlafsack ausbreiten kann.

Glück des Tages: Der herrlich sonnige und mit Wahnsinnsaussicht geadelte Tagesbeginn beim Abmarsch an der Zollnerseehütte; genau für solche Momente bin ich unterwegs.

Gelaufen: 18,6 Kilometer 
Bergauf: 1.536 Hm
Bergab: 1.218 Hm
Höchster Punkt: Valentintörl (2.138m)
Übergänge: Valentintörl, Birnbaumer Törl, Giramondopass, Sella Sissanis, Öfner Joch
Gipfel: Keine

Ausrüstung

" Ihm gehörten die Dinge in seinen Taschen, die Kleidung, die er trug, und die Schuhe an seinen Füßen. Das war alles, und es genügte. ...